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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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mußte, liegt aus der Hand. Ju der Vorliebe für dasjenige, was den herrschen¬
den Begriffen widersprach, einer Vorliebe, die insofern gerechtfertigt war, als sie
dem Terrorismus der Verstandes-Abstractionen gegenüber die individuelle Frei¬
heit wahrte, vergaß man am (5"de, daß hier nur eine relative Berechtigung
stattfinden konnte. Weil man mit vollem Rechte die Aufklärung darüber getadelt
hatte, daß sie sür existirende Clnpfindungen, 5. B. den Adelstolz, die Lehnstreue,
die katholische Phantasie u. s. w., kein Verständniß habe, und darum einseitig und
unfertig sei, ging man zuletzt so weit, jene irrationeller Empfindungen, die man
zuerst uur im Interesse der Freiheit vertheidigt hatte, sich selber aufzuschwatzen;
man wurde orthodox, katholisch, jesuitisch, ultra-loyal u. s. w., um deu Zeitgeist
zu ärgern. -- Man vergaß ferner, daß in jeder historischen Individualität, sie
mag so ursprünglich sein und der Regel widersprechen soviel sie will, das all¬
gemein Menschliche doch immer immanent sein muß; daß barbarische, ungelöste
Cultnrformen nnr als Uebergaugsstufen Interesse haben. Malt hätte gern die
Geschichte in ein Raritätencabinet umgewandelt, in eine Reihe monströser Erschei¬
nungen, die zu einander kein Verhältniß und keine Vermittelung zuließen. --
(Endlich wurde mau aus Abneigung gegen deu Erlist des Verstandes, der sich
mit aller Gewalt realisiren will und sich realisiren muß, ohne auf das Recht der
Individualität Rücksicht, zu nehmen, man wurde sentimental; wie ein nächt¬
liches Gespenst, bannte man sich an die Ruine" und Pyramiden der Vergangen¬
heit; man betete mit den alten Christen in den Katakomben, mau fluchte mit dem
Sohn der Urwälder gegen die Art und deu Pflug des Pflanzers, der das wider-
spenstige Erdreich dem, menschlichen Willen unterwarf.

Hier nun trat die deutsche Philosophie ergänzend dazwischen; die Phi¬
losophie, welche seit Herder, Schelling und Schleiermacher mit ebensoviel An¬
strengung das Recht der individuellen Gestaltung vertrat, als der Roman, wenn
auch aus dem umgekehrten Wege. Der Roman schied, die Philosophie combi-
nirte; der Roman suchte deu allgemeinen Verstand" zu demüthigen, die Philoso¬
phie ihn über das bisherige Maaß auszudehnen; der Roman flüchtete in die
Materie, die Philosophie vergeistigte die Begriffe auf eine bis dahin unerhörte
Weise. -- Jene großen Denker haben aus keinem Gebiet soviel Eroberungen ge¬
macht, als i,l der Geschichte; und seitdem ihre vereinzelten Ideen durch die ge¬
waltige, universelle ffuergic des größten unter ihnen, dnrch Hegel, zu einem in
sich selbst abgerundeten, in stolzer Siegesgewißheit die Weltherrschaft erstrebenden
Princip concentrirt wurden, hat sich die Weltgeschichte ans eine so revolutionäre
Weise umgestaltet, daß wir uus in deu alten Bildern kaum mehr zurecht finden;
Traum und Wachen, Jenseits und Diesseits, Geist und Materie haben sich so
ineinander tillgelebt, daß wir fast das Gefühl des Iluterschiedes verloren haben.

Worin liegt das Gemeinsame jener beiden Richtungen, die scheinbar so ganz
entgegengesetzte Wege einschlagen? -- Die Philosophie betrachtet den gesammten


mußte, liegt aus der Hand. Ju der Vorliebe für dasjenige, was den herrschen¬
den Begriffen widersprach, einer Vorliebe, die insofern gerechtfertigt war, als sie
dem Terrorismus der Verstandes-Abstractionen gegenüber die individuelle Frei¬
heit wahrte, vergaß man am (5»de, daß hier nur eine relative Berechtigung
stattfinden konnte. Weil man mit vollem Rechte die Aufklärung darüber getadelt
hatte, daß sie sür existirende Clnpfindungen, 5. B. den Adelstolz, die Lehnstreue,
die katholische Phantasie u. s. w., kein Verständniß habe, und darum einseitig und
unfertig sei, ging man zuletzt so weit, jene irrationeller Empfindungen, die man
zuerst uur im Interesse der Freiheit vertheidigt hatte, sich selber aufzuschwatzen;
man wurde orthodox, katholisch, jesuitisch, ultra-loyal u. s. w., um deu Zeitgeist
zu ärgern. — Man vergaß ferner, daß in jeder historischen Individualität, sie
mag so ursprünglich sein und der Regel widersprechen soviel sie will, das all¬
gemein Menschliche doch immer immanent sein muß; daß barbarische, ungelöste
Cultnrformen nnr als Uebergaugsstufen Interesse haben. Malt hätte gern die
Geschichte in ein Raritätencabinet umgewandelt, in eine Reihe monströser Erschei¬
nungen, die zu einander kein Verhältniß und keine Vermittelung zuließen. —
(Endlich wurde mau aus Abneigung gegen deu Erlist des Verstandes, der sich
mit aller Gewalt realisiren will und sich realisiren muß, ohne auf das Recht der
Individualität Rücksicht, zu nehmen, man wurde sentimental; wie ein nächt¬
liches Gespenst, bannte man sich an die Ruine» und Pyramiden der Vergangen¬
heit; man betete mit den alten Christen in den Katakomben, mau fluchte mit dem
Sohn der Urwälder gegen die Art und deu Pflug des Pflanzers, der das wider-
spenstige Erdreich dem, menschlichen Willen unterwarf.

Hier nun trat die deutsche Philosophie ergänzend dazwischen; die Phi¬
losophie, welche seit Herder, Schelling und Schleiermacher mit ebensoviel An¬
strengung das Recht der individuellen Gestaltung vertrat, als der Roman, wenn
auch aus dem umgekehrten Wege. Der Roman schied, die Philosophie combi-
nirte; der Roman suchte deu allgemeinen Verstand» zu demüthigen, die Philoso¬
phie ihn über das bisherige Maaß auszudehnen; der Roman flüchtete in die
Materie, die Philosophie vergeistigte die Begriffe auf eine bis dahin unerhörte
Weise. — Jene großen Denker haben aus keinem Gebiet soviel Eroberungen ge¬
macht, als i,l der Geschichte; und seitdem ihre vereinzelten Ideen durch die ge¬
waltige, universelle ffuergic des größten unter ihnen, dnrch Hegel, zu einem in
sich selbst abgerundeten, in stolzer Siegesgewißheit die Weltherrschaft erstrebenden
Princip concentrirt wurden, hat sich die Weltgeschichte ans eine so revolutionäre
Weise umgestaltet, daß wir uus in deu alten Bildern kaum mehr zurecht finden;
Traum und Wachen, Jenseits und Diesseits, Geist und Materie haben sich so
ineinander tillgelebt, daß wir fast das Gefühl des Iluterschiedes verloren haben.

Worin liegt das Gemeinsame jener beiden Richtungen, die scheinbar so ganz
entgegengesetzte Wege einschlagen? — Die Philosophie betrachtet den gesammten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/303>, abgerufen am 28.09.2024.