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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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hätte", und dazu durch Beweggründe getrieben wären, die ungefähr mit den lei¬
tenden Motiven aller Zeiten übereinkämen; sie sucht vielmehr sich in das Innere
der Menschen zu versenken, sich in dieser fremden Welt gleichsam zu verlieren.
Der pragmatische Geschichtschreiber glich dem reisenden Engländer, der aus öko¬
nomischen Gründen sich ans dem Continent hernmtreibt, aber in seinem Ge¬
päck wie in seinem Selbstbewußtsein die Heimath mit sich herumträgt, und von
dem, was ihm begegnet, nnr das Homogene sieht und reeipirt; der romantische
Geschichtschreiber dagegegen macht seine Reisen wie Semilasso, der kosmopolitische
Deutsche; er acclimatisirt sich, er setzt den Turban ans, ißt Opium und spannt
Ochsen vor seinen Wagen, -- Walter Scott geht nie so weit, daß er die Grund--
läge seiner Individualität, den gesunden Menschenverstand, die Errungenschaft der
englischen Geschichte und Literatur, vollständig ans den Augen verlöre; in allen
seinen Romanen ist er immer mit seinem sittlichen Gefühl zugegen, in der Person
des jungen Liebhabers oder irgend einer andern verständigen Figur; aber diesem
abstracten Verstand gegenüber, wie reichhaltig ist die Sammlung origineller,
durch deu gewöhnlichen Verstand nicht auflösbarer, gemischter Charaktere! Mit
welcher sinnlichen Wahrheit weiß er den religiösen und politischen Fanatismus, das
nationale und Standes-Vorurtheil z" zeichnen, mit welcher künstlerischen Geschicklichkeit
widersprechende historische Zuge (z. V. Ludwig X>", (Elisabeth, Maria Stuart .w,)
zu eiuer concreten Gestalt abzurunden. Für diese Anschauung geschichtlicher Per¬
sönlichkeiten kann man ans Walter Scott viel mehr lernen, als ans hundert der
gewöhnlichen Historiographen.

Walter Scott's Einfluß war um so größer, da er mit seiner Richtung
aufs Originelle einer allgemeinen Richtung der Zeit entgegenkam. Die Reaction
gegen die Alles gleichmachenden, abstracten Begriffe der Aufklärung war bei allen
Dichtern und Denkern der damaligen Zeit ein Lebensbedürfnis;. Man sammelte
seit Herder, nnr um auf das Ursprüngliche, Cigenthümiiche und Natürliche zurück¬
zugehen, die Volkslieder aller Zeiten bis zum blöden Stammeln der Kinderpoesie
herunter; man suchte ^die irratiouelleu Ideen, welche die Aufklärung zersetzt und
in die allgemeinen Begriffe aufgelöst hatte, wieder zusammenzusetzen und in der
alten Gestalt anzuschauen, z. B. das historische Christenthum, den Adel, den speci¬
fischen, ausschließenden Patriotismus, das Studententhum, die Zünfte n. f. w.
Wie man früher uur das Gleiche gesucht hatte, ging man jetzt umgekehrt aus¬
schließlich auf die Empfindung des Contrastes aus; man scheute in der
gewissenhaften Porträtirung auch das Barocke nicht, weil man sich durch Humor
damit versöhnen konnte; mau dachte uicht daran, anch die grellsten Farben zu ver¬
meiden, weil man glaubte, die eine würde das schreiende der andern aufheben;
mau spottete der Regel, und entlehnte von Shakespeare das bunte Detail, "in
sich den Gesetzen einer dünkelhaften und gemachten Convenienz zu entziehen.

Daß eine solche Form der Betrachtung nnr allzuleicht auf Abwege führen


hätte», und dazu durch Beweggründe getrieben wären, die ungefähr mit den lei¬
tenden Motiven aller Zeiten übereinkämen; sie sucht vielmehr sich in das Innere
der Menschen zu versenken, sich in dieser fremden Welt gleichsam zu verlieren.
Der pragmatische Geschichtschreiber glich dem reisenden Engländer, der aus öko¬
nomischen Gründen sich ans dem Continent hernmtreibt, aber in seinem Ge¬
päck wie in seinem Selbstbewußtsein die Heimath mit sich herumträgt, und von
dem, was ihm begegnet, nnr das Homogene sieht und reeipirt; der romantische
Geschichtschreiber dagegegen macht seine Reisen wie Semilasso, der kosmopolitische
Deutsche; er acclimatisirt sich, er setzt den Turban ans, ißt Opium und spannt
Ochsen vor seinen Wagen, — Walter Scott geht nie so weit, daß er die Grund--
läge seiner Individualität, den gesunden Menschenverstand, die Errungenschaft der
englischen Geschichte und Literatur, vollständig ans den Augen verlöre; in allen
seinen Romanen ist er immer mit seinem sittlichen Gefühl zugegen, in der Person
des jungen Liebhabers oder irgend einer andern verständigen Figur; aber diesem
abstracten Verstand gegenüber, wie reichhaltig ist die Sammlung origineller,
durch deu gewöhnlichen Verstand nicht auflösbarer, gemischter Charaktere! Mit
welcher sinnlichen Wahrheit weiß er den religiösen und politischen Fanatismus, das
nationale und Standes-Vorurtheil z» zeichnen, mit welcher künstlerischen Geschicklichkeit
widersprechende historische Zuge (z. V. Ludwig X>„, (Elisabeth, Maria Stuart .w,)
zu eiuer concreten Gestalt abzurunden. Für diese Anschauung geschichtlicher Per¬
sönlichkeiten kann man ans Walter Scott viel mehr lernen, als ans hundert der
gewöhnlichen Historiographen.

Walter Scott's Einfluß war um so größer, da er mit seiner Richtung
aufs Originelle einer allgemeinen Richtung der Zeit entgegenkam. Die Reaction
gegen die Alles gleichmachenden, abstracten Begriffe der Aufklärung war bei allen
Dichtern und Denkern der damaligen Zeit ein Lebensbedürfnis;. Man sammelte
seit Herder, nnr um auf das Ursprüngliche, Cigenthümiiche und Natürliche zurück¬
zugehen, die Volkslieder aller Zeiten bis zum blöden Stammeln der Kinderpoesie
herunter; man suchte ^die irratiouelleu Ideen, welche die Aufklärung zersetzt und
in die allgemeinen Begriffe aufgelöst hatte, wieder zusammenzusetzen und in der
alten Gestalt anzuschauen, z. B. das historische Christenthum, den Adel, den speci¬
fischen, ausschließenden Patriotismus, das Studententhum, die Zünfte n. f. w.
Wie man früher uur das Gleiche gesucht hatte, ging man jetzt umgekehrt aus¬
schließlich auf die Empfindung des Contrastes aus; man scheute in der
gewissenhaften Porträtirung auch das Barocke nicht, weil man sich durch Humor
damit versöhnen konnte; mau dachte uicht daran, anch die grellsten Farben zu ver¬
meiden, weil man glaubte, die eine würde das schreiende der andern aufheben;
mau spottete der Regel, und entlehnte von Shakespeare das bunte Detail, »in
sich den Gesetzen einer dünkelhaften und gemachten Convenienz zu entziehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/302>, abgerufen am 26.06.2024.