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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Nach Jahren war die Hirtin das schönste Mädchen weit und breit im Lande
geworden. Jedermann verwunderte sich, wenn er sie sah. Da kam einmal der
König Dezcbalus, der ein großer Zauberer und sehr reich war, in jene Gegend.
Als er vorbeiging, an der Thordlier Schlucht, sah er das schöne Hirtenmädchen
am Bache Wen. Der König war ein sehr schöner freundlicher Mann, und da
er sie sah und vor sie hintrat, um einen Trunk Wasser zu begehren, da wurde
ihr/ sie wußte nicht wie? und sie liebte den König von Stund an. Der aber, nach¬
dem er getrunken, dankte ihr und ging weiter. Den andern Tag kam er wieder,
und sprach mit ihr huldreich, und kam dann alle Tage, und endlich blieb er dort
ganze Stunden, und vergaß sein Königreich und seiue Zaubereien. Deun er
liebte Luscha über alle Maßen, und sie war so glücklich, daß ihr gar nicht ein¬
fiel, es könne einmal anders kommen. Sie wußte aber uicht, daß es der König
wäre. Dezebalus überredete sie endlich, mit ihr zu gehen in seine Burg, und
gestand ihr, daß er über das ganze Land herrsche. Sie erschrack sehr, denn sie-
meinte, bald werde der König ihrer vergessen. Doch folgte sie ihm nach seinem
Schlosse; dort ward sie die Königin, und lebte noch manches Jahr in Glück und
Freude mit ihm.

Da wurde aber eines Tages der König sehr krank, so krank, daß kein Arzt
und keine seiner Zauberkünste ihm helfen konnte. Lnscha, die ihn noch ebenso
liebte wie damals, als sie die Schafe am Bache hütete und ihm den Krug
mit Wasser reichte, weinte Tag und Nacht und kam nicht vom Lager ihres Königs
weg. Einmal schlief sie aber vor Müdigkeit ein, und da sah sie im Traum die
alte Spinnerin wieder, und den goldenen Faden, der unsterblich macht. Als sie
erwachte und sich des Traumes erinnerte, trat sie vor den König, und sprach
zu ihm:

"Vergönne mir, lieber Herr König, eine Reise zu machen. Ich will ein
Kräutlein holen, das Vues heilen soll. Mir träumte heut' Nacht, wo es wächst."

"Geh hin," sprach der König, "Dn treues, liebes Weib, und hole mir das
Kräutlein. Ich bin jung und möchte nicht gern sterben, weil ich Dich so lieb
habe, wie mein ganzes Reich."

"Und ich, Herr, liebe Euch so sehr, daß mir mein Leben gering dünkt,
wenn ich Euch retten kann."

Sie kam in der Klus an, ließ ihre Diener unten, und kletterte in die Höhle
hinab. Wie sie uun tief innen in jenem Gang angekommen war, wo sich da¬
mals der Felsen aufgethan hatte, schaute sie um sich, ob sie heute wieder das
Licht sehen möchte. Aber es war ganz dunkel, und der Felsen that sich nicht
auf. Da rief sie aus Leibeskräften die Spinnerin und beschwor sie mit eiuer
mächtigen Beschwörung, die ihr Gemahl sie gelehrt, und siehe, der Felsen spal¬
tete sich, und das Licht brannte wieder, wie vor zehn Jahren. --

Luscha faßte sich eilt Herz und ging den Gang hinunter, bis sie vor der alten


Nach Jahren war die Hirtin das schönste Mädchen weit und breit im Lande
geworden. Jedermann verwunderte sich, wenn er sie sah. Da kam einmal der
König Dezcbalus, der ein großer Zauberer und sehr reich war, in jene Gegend.
Als er vorbeiging, an der Thordlier Schlucht, sah er das schöne Hirtenmädchen
am Bache Wen. Der König war ein sehr schöner freundlicher Mann, und da
er sie sah und vor sie hintrat, um einen Trunk Wasser zu begehren, da wurde
ihr/ sie wußte nicht wie? und sie liebte den König von Stund an. Der aber, nach¬
dem er getrunken, dankte ihr und ging weiter. Den andern Tag kam er wieder,
und sprach mit ihr huldreich, und kam dann alle Tage, und endlich blieb er dort
ganze Stunden, und vergaß sein Königreich und seiue Zaubereien. Deun er
liebte Luscha über alle Maßen, und sie war so glücklich, daß ihr gar nicht ein¬
fiel, es könne einmal anders kommen. Sie wußte aber uicht, daß es der König
wäre. Dezebalus überredete sie endlich, mit ihr zu gehen in seine Burg, und
gestand ihr, daß er über das ganze Land herrsche. Sie erschrack sehr, denn sie-
meinte, bald werde der König ihrer vergessen. Doch folgte sie ihm nach seinem
Schlosse; dort ward sie die Königin, und lebte noch manches Jahr in Glück und
Freude mit ihm.

Da wurde aber eines Tages der König sehr krank, so krank, daß kein Arzt
und keine seiner Zauberkünste ihm helfen konnte. Lnscha, die ihn noch ebenso
liebte wie damals, als sie die Schafe am Bache hütete und ihm den Krug
mit Wasser reichte, weinte Tag und Nacht und kam nicht vom Lager ihres Königs
weg. Einmal schlief sie aber vor Müdigkeit ein, und da sah sie im Traum die
alte Spinnerin wieder, und den goldenen Faden, der unsterblich macht. Als sie
erwachte und sich des Traumes erinnerte, trat sie vor den König, und sprach
zu ihm:

„Vergönne mir, lieber Herr König, eine Reise zu machen. Ich will ein
Kräutlein holen, das Vues heilen soll. Mir träumte heut' Nacht, wo es wächst."

„Geh hin," sprach der König, „Dn treues, liebes Weib, und hole mir das
Kräutlein. Ich bin jung und möchte nicht gern sterben, weil ich Dich so lieb
habe, wie mein ganzes Reich."

„Und ich, Herr, liebe Euch so sehr, daß mir mein Leben gering dünkt,
wenn ich Euch retten kann."

Sie kam in der Klus an, ließ ihre Diener unten, und kletterte in die Höhle
hinab. Wie sie uun tief innen in jenem Gang angekommen war, wo sich da¬
mals der Felsen aufgethan hatte, schaute sie um sich, ob sie heute wieder das
Licht sehen möchte. Aber es war ganz dunkel, und der Felsen that sich nicht
auf. Da rief sie aus Leibeskräften die Spinnerin und beschwor sie mit eiuer
mächtigen Beschwörung, die ihr Gemahl sie gelehrt, und siehe, der Felsen spal¬
tete sich, und das Licht brannte wieder, wie vor zehn Jahren. —

Luscha faßte sich eilt Herz und ging den Gang hinunter, bis sie vor der alten


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[0197] Nach Jahren war die Hirtin das schönste Mädchen weit und breit im Lande geworden. Jedermann verwunderte sich, wenn er sie sah. Da kam einmal der König Dezcbalus, der ein großer Zauberer und sehr reich war, in jene Gegend. Als er vorbeiging, an der Thordlier Schlucht, sah er das schöne Hirtenmädchen am Bache Wen. Der König war ein sehr schöner freundlicher Mann, und da er sie sah und vor sie hintrat, um einen Trunk Wasser zu begehren, da wurde ihr/ sie wußte nicht wie? und sie liebte den König von Stund an. Der aber, nach¬ dem er getrunken, dankte ihr und ging weiter. Den andern Tag kam er wieder, und sprach mit ihr huldreich, und kam dann alle Tage, und endlich blieb er dort ganze Stunden, und vergaß sein Königreich und seiue Zaubereien. Deun er liebte Luscha über alle Maßen, und sie war so glücklich, daß ihr gar nicht ein¬ fiel, es könne einmal anders kommen. Sie wußte aber uicht, daß es der König wäre. Dezebalus überredete sie endlich, mit ihr zu gehen in seine Burg, und gestand ihr, daß er über das ganze Land herrsche. Sie erschrack sehr, denn sie- meinte, bald werde der König ihrer vergessen. Doch folgte sie ihm nach seinem Schlosse; dort ward sie die Königin, und lebte noch manches Jahr in Glück und Freude mit ihm. Da wurde aber eines Tages der König sehr krank, so krank, daß kein Arzt und keine seiner Zauberkünste ihm helfen konnte. Lnscha, die ihn noch ebenso liebte wie damals, als sie die Schafe am Bache hütete und ihm den Krug mit Wasser reichte, weinte Tag und Nacht und kam nicht vom Lager ihres Königs weg. Einmal schlief sie aber vor Müdigkeit ein, und da sah sie im Traum die alte Spinnerin wieder, und den goldenen Faden, der unsterblich macht. Als sie erwachte und sich des Traumes erinnerte, trat sie vor den König, und sprach zu ihm: „Vergönne mir, lieber Herr König, eine Reise zu machen. Ich will ein Kräutlein holen, das Vues heilen soll. Mir träumte heut' Nacht, wo es wächst." „Geh hin," sprach der König, „Dn treues, liebes Weib, und hole mir das Kräutlein. Ich bin jung und möchte nicht gern sterben, weil ich Dich so lieb habe, wie mein ganzes Reich." „Und ich, Herr, liebe Euch so sehr, daß mir mein Leben gering dünkt, wenn ich Euch retten kann." Sie kam in der Klus an, ließ ihre Diener unten, und kletterte in die Höhle hinab. Wie sie uun tief innen in jenem Gang angekommen war, wo sich da¬ mals der Felsen aufgethan hatte, schaute sie um sich, ob sie heute wieder das Licht sehen möchte. Aber es war ganz dunkel, und der Felsen that sich nicht auf. Da rief sie aus Leibeskräften die Spinnerin und beschwor sie mit eiuer mächtigen Beschwörung, die ihr Gemahl sie gelehrt, und siehe, der Felsen spal¬ tete sich, und das Licht brannte wieder, wie vor zehn Jahren. — Luscha faßte sich eilt Herz und ging den Gang hinunter, bis sie vor der alten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/197>, abgerufen am 01.10.2024.