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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Nun ereignete es sich, daß die Schafe bei schlechtem Wetter gewöhnlich in den
zwei Hohlen, die einander gegenüber liegen, Unterkunft suchten, und Luscha, die
Hirtin, ihnen nachging. Wenn dann die Thiere nchig lagen, kroch sie in
die Tiefen der Hohle, und klopfte an die Wände, weil sie einen lauten sonder¬
baren Ton von sich gaben. Einmal klopfte sie auch an, da öffnete sich die
Wand plötzlich, und sie sah einen langen dunkeln Gang. Weit hinten blickte
ein Lichtlein. Weil Luscha neugierig war, so überwand sie den Schrecken, den
das unvermuthete Aufsperren der Wand ihr eingeflößt, und ging hinein in den
Gang, immer dem Lichte nach. Es ist wahr, sie fürchtete sich doch sehr, weil
sie allein war, und nicht wußte, ob vielleicht böse Geister sie verlocken wollten.
Doch wollte sie wissen, was das Licht dort beleuchtete. Sie kam hin und sah
eine alte Frau da sitzen, die spann. Es war eine sehr alte Fran. Der Faden
aber, an dem'sie spann, war golden, und leuchtete so stark, daß sie ein Licht
nicht nöthig gehabt hätte.

"Was spinnt Ihr da?" fragte Luscha die Alte.

"Ich Spinne, Spinne, Spinne," sagte die Greisin, "was nie an das Tages¬
licht kommt und kommen darf. Denn wenn der Tag meine Arbeit sähe, so würde
der Faden zerreißen, und ich würde sterben."

"Aber was für ein Geheimniß ist eS denn mit der goldenen Spule ? Warum
darf sie uicht an den Tag?"

"Weil dann die Menschen gar nicht sterben würden. Denn der, so nur
einen Faden von der Länge eines Fingers bei sich trägt, stirbt nicht. Darum
kann ich nicht sterben."

"Wie alt seid ihr?"

"So alt, als diese Spule. Sie ist nicht gemacht von Menschenhand, nicht
ans irdischem Stosse gebildet und kann nie zerstört werden."

"Ach bitte, gebt mir einen Faden, Fingers lang, ich möchte auch recht sehr
alt werden, oder lieber gar nicht sterben."

"Möchtest Du auch so runzelig und garstig werde", wie ich? Was nützte
Dir Deine Unsterblichfeit, wenn Dn nicht mehr gehen und sehen und hören und
suhlen könntest, und wenn alle Leute Dich verspotteten?"

"Aber ich stürbe nicht, und würde sehr klug, weil ich Alles sähe, was An¬
dere, die so kurz leben, nicht sehen können."

"Geh, Kind, Dn weißt nicht, was Dn willst. Aber hüte Dich, zu reden,
von dem was Dn gesehen und gehört. Ich müßte Dich strafen."

Und Lnscha ging. Hinter ihr schloß sich der Felsen, und sie mußte die
Schafe suchen, die sich zerstreut hatten, weil das Wetter besser geworden war.

Lnscha war klug und sagte keinem Menschen, was sie drinnen in der Kammer
gescheit bei der überaus alten Spinnerin. Nicht einmal die Schafe erfuhren
es, mit denen sie doch oft redete, und die sehr verschwiegen gewesen wären.


Nun ereignete es sich, daß die Schafe bei schlechtem Wetter gewöhnlich in den
zwei Hohlen, die einander gegenüber liegen, Unterkunft suchten, und Luscha, die
Hirtin, ihnen nachging. Wenn dann die Thiere nchig lagen, kroch sie in
die Tiefen der Hohle, und klopfte an die Wände, weil sie einen lauten sonder¬
baren Ton von sich gaben. Einmal klopfte sie auch an, da öffnete sich die
Wand plötzlich, und sie sah einen langen dunkeln Gang. Weit hinten blickte
ein Lichtlein. Weil Luscha neugierig war, so überwand sie den Schrecken, den
das unvermuthete Aufsperren der Wand ihr eingeflößt, und ging hinein in den
Gang, immer dem Lichte nach. Es ist wahr, sie fürchtete sich doch sehr, weil
sie allein war, und nicht wußte, ob vielleicht böse Geister sie verlocken wollten.
Doch wollte sie wissen, was das Licht dort beleuchtete. Sie kam hin und sah
eine alte Frau da sitzen, die spann. Es war eine sehr alte Fran. Der Faden
aber, an dem'sie spann, war golden, und leuchtete so stark, daß sie ein Licht
nicht nöthig gehabt hätte.

„Was spinnt Ihr da?" fragte Luscha die Alte.

„Ich Spinne, Spinne, Spinne," sagte die Greisin, „was nie an das Tages¬
licht kommt und kommen darf. Denn wenn der Tag meine Arbeit sähe, so würde
der Faden zerreißen, und ich würde sterben."

„Aber was für ein Geheimniß ist eS denn mit der goldenen Spule ? Warum
darf sie uicht an den Tag?"

„Weil dann die Menschen gar nicht sterben würden. Denn der, so nur
einen Faden von der Länge eines Fingers bei sich trägt, stirbt nicht. Darum
kann ich nicht sterben."

„Wie alt seid ihr?"

„So alt, als diese Spule. Sie ist nicht gemacht von Menschenhand, nicht
ans irdischem Stosse gebildet und kann nie zerstört werden."

„Ach bitte, gebt mir einen Faden, Fingers lang, ich möchte auch recht sehr
alt werden, oder lieber gar nicht sterben."

„Möchtest Du auch so runzelig und garstig werde», wie ich? Was nützte
Dir Deine Unsterblichfeit, wenn Dn nicht mehr gehen und sehen und hören und
suhlen könntest, und wenn alle Leute Dich verspotteten?"

„Aber ich stürbe nicht, und würde sehr klug, weil ich Alles sähe, was An¬
dere, die so kurz leben, nicht sehen können."

„Geh, Kind, Dn weißt nicht, was Dn willst. Aber hüte Dich, zu reden,
von dem was Dn gesehen und gehört. Ich müßte Dich strafen."

Und Lnscha ging. Hinter ihr schloß sich der Felsen, und sie mußte die
Schafe suchen, die sich zerstreut hatten, weil das Wetter besser geworden war.

Lnscha war klug und sagte keinem Menschen, was sie drinnen in der Kammer
gescheit bei der überaus alten Spinnerin. Nicht einmal die Schafe erfuhren
es, mit denen sie doch oft redete, und die sehr verschwiegen gewesen wären.


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[0196] Nun ereignete es sich, daß die Schafe bei schlechtem Wetter gewöhnlich in den zwei Hohlen, die einander gegenüber liegen, Unterkunft suchten, und Luscha, die Hirtin, ihnen nachging. Wenn dann die Thiere nchig lagen, kroch sie in die Tiefen der Hohle, und klopfte an die Wände, weil sie einen lauten sonder¬ baren Ton von sich gaben. Einmal klopfte sie auch an, da öffnete sich die Wand plötzlich, und sie sah einen langen dunkeln Gang. Weit hinten blickte ein Lichtlein. Weil Luscha neugierig war, so überwand sie den Schrecken, den das unvermuthete Aufsperren der Wand ihr eingeflößt, und ging hinein in den Gang, immer dem Lichte nach. Es ist wahr, sie fürchtete sich doch sehr, weil sie allein war, und nicht wußte, ob vielleicht böse Geister sie verlocken wollten. Doch wollte sie wissen, was das Licht dort beleuchtete. Sie kam hin und sah eine alte Frau da sitzen, die spann. Es war eine sehr alte Fran. Der Faden aber, an dem'sie spann, war golden, und leuchtete so stark, daß sie ein Licht nicht nöthig gehabt hätte. „Was spinnt Ihr da?" fragte Luscha die Alte. „Ich Spinne, Spinne, Spinne," sagte die Greisin, „was nie an das Tages¬ licht kommt und kommen darf. Denn wenn der Tag meine Arbeit sähe, so würde der Faden zerreißen, und ich würde sterben." „Aber was für ein Geheimniß ist eS denn mit der goldenen Spule ? Warum darf sie uicht an den Tag?" „Weil dann die Menschen gar nicht sterben würden. Denn der, so nur einen Faden von der Länge eines Fingers bei sich trägt, stirbt nicht. Darum kann ich nicht sterben." „Wie alt seid ihr?" „So alt, als diese Spule. Sie ist nicht gemacht von Menschenhand, nicht ans irdischem Stosse gebildet und kann nie zerstört werden." „Ach bitte, gebt mir einen Faden, Fingers lang, ich möchte auch recht sehr alt werden, oder lieber gar nicht sterben." „Möchtest Du auch so runzelig und garstig werde», wie ich? Was nützte Dir Deine Unsterblichfeit, wenn Dn nicht mehr gehen und sehen und hören und suhlen könntest, und wenn alle Leute Dich verspotteten?" „Aber ich stürbe nicht, und würde sehr klug, weil ich Alles sähe, was An¬ dere, die so kurz leben, nicht sehen können." „Geh, Kind, Dn weißt nicht, was Dn willst. Aber hüte Dich, zu reden, von dem was Dn gesehen und gehört. Ich müßte Dich strafen." Und Lnscha ging. Hinter ihr schloß sich der Felsen, und sie mußte die Schafe suchen, die sich zerstreut hatten, weil das Wetter besser geworden war. Lnscha war klug und sagte keinem Menschen, was sie drinnen in der Kammer gescheit bei der überaus alten Spinnerin. Nicht einmal die Schafe erfuhren es, mit denen sie doch oft redete, und die sehr verschwiegen gewesen wären.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/196>, abgerufen am 01.07.2024.