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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Wenn der Weg Rechtens objectiv nicht der zweckmäßigste war -- denn
ein Recht ist unnütz,, wo kein Richter ist, oder keine Macht es zu realisiren --
so war er subjectiv der passendste für Lincke's Persönlichkeit. Es ist hier der
Ort, die Natur des Nechtsbvdens überhaupt in's Ruge zu fassen. Bekanntlich
hat ihn Vincke im folgenden Jahr ebenso der Revolution entgegengehalten, als
früher dem Absolutismus, und man hat ihm dann mit einem andern Rechte ge¬
antwortet, von dein man bis dahin in der Geschichte noch nichts gehört, dem
Recht der Revolution.

Im Grunde wird ein Jeder den Standpunkt des Rechts dein Standpunkt
deö Unrechts vorziehn. Er wird seine Forderungen lieber als Rechtsansprüche
als in der Form der Wünsche oder der Usurpation vorbringen. Aber um das
zu können, muß ein Recht da sein. Wenn man Jemand in's Wasser wirft, so
nützt es ihm nichts, wenn er festen Boden nnter seinen Füßen verlangt. Im
Wasser kann mau uicht fest auftreten, man muß schwimmen. Außerdem ist das
Recht an sich nichts Festes. Es ist seiner Natur nach kein bloßes Petrefact der
Vergangenheit. Es hat uicht deu Vorzug der materiellen Dinge, daß man es
mit Handen greifen, seine Eristenz und seine Beschaffenheit dem Ungläubigen mit
sinnlicher Gewißheit nachweisen könnte. Das Recht wurzelt im Bewußtsein und
hat, wie man es auch auffassen möge, eine subjective Seite. Es erträgt daher
nicht blos eine sophistische Behandlung, es erfordert sie in gewissem Sinn, und
Vincke's Gegner hatten nicht ganz unrecht, wenn sie ihm Schuld gaben, das
Recht, worauf er sich berufe, sei sein eigen Werk, und er erkläre in jedem Augen-
blick das für Recht, was ihm convenire. Wenigstens war das Rechtssnbject, als
dessen Vertreter er auftrat -- das preußische Volk -- ein sehr problematisches,
und er mußte sich in das Labyrinth der feudalen Stände verirren, um ihm eine
concretere Form zu geben.

Vincke hat aber sein Recht auch uicht als Jurist vertheidigt. Er hat es
wiederholt, und "och zuletzt in Erfurt, mit einem gewissen Behagen ausgesprochen,
daß er kein Jurist sei, und daß ihm bei spitzfindigen juristischen Deductionen
"so dumm werde, als ginge ihm ein Mühlrad im Kopf herum." Er hat der
Ncchtssophistik eines Savigny und Keller nicht den Scharfsinn einer gelehrten
Beweisführung, sondern den Witz des "gesunden Menschenverstands" entgegen¬
gesetzt. Der gesunde Menschenverstand ist zu sicher in seiner Anschauung der
Totalität, um sich dnrch das Detail verwirren zu lassen; er läßt sich in seiner
Ueberzeugung nicht stören, weil -- er nicht will.

In der Kraft des Willens, nicht in der logischen Begründung, liegt die
Sicherheit dieses Rechtsbewußtseins. Ein fester Charakter setzt sich gern eine be¬
stimmte Grenze, über die er nicht zurückgeht, und er liebt es, diese als objectiv,
als gegeben zu betrachten. Diese äußerliche Basis, wenn ihre Kraft auch wesentlich
auf die subjective Kraft herauskommt, gibt dem Willen Form -- Fa^on, wenn


Wenn der Weg Rechtens objectiv nicht der zweckmäßigste war — denn
ein Recht ist unnütz,, wo kein Richter ist, oder keine Macht es zu realisiren —
so war er subjectiv der passendste für Lincke's Persönlichkeit. Es ist hier der
Ort, die Natur des Nechtsbvdens überhaupt in's Ruge zu fassen. Bekanntlich
hat ihn Vincke im folgenden Jahr ebenso der Revolution entgegengehalten, als
früher dem Absolutismus, und man hat ihm dann mit einem andern Rechte ge¬
antwortet, von dein man bis dahin in der Geschichte noch nichts gehört, dem
Recht der Revolution.

Im Grunde wird ein Jeder den Standpunkt des Rechts dein Standpunkt
deö Unrechts vorziehn. Er wird seine Forderungen lieber als Rechtsansprüche
als in der Form der Wünsche oder der Usurpation vorbringen. Aber um das
zu können, muß ein Recht da sein. Wenn man Jemand in's Wasser wirft, so
nützt es ihm nichts, wenn er festen Boden nnter seinen Füßen verlangt. Im
Wasser kann mau uicht fest auftreten, man muß schwimmen. Außerdem ist das
Recht an sich nichts Festes. Es ist seiner Natur nach kein bloßes Petrefact der
Vergangenheit. Es hat uicht deu Vorzug der materiellen Dinge, daß man es
mit Handen greifen, seine Eristenz und seine Beschaffenheit dem Ungläubigen mit
sinnlicher Gewißheit nachweisen könnte. Das Recht wurzelt im Bewußtsein und
hat, wie man es auch auffassen möge, eine subjective Seite. Es erträgt daher
nicht blos eine sophistische Behandlung, es erfordert sie in gewissem Sinn, und
Vincke's Gegner hatten nicht ganz unrecht, wenn sie ihm Schuld gaben, das
Recht, worauf er sich berufe, sei sein eigen Werk, und er erkläre in jedem Augen-
blick das für Recht, was ihm convenire. Wenigstens war das Rechtssnbject, als
dessen Vertreter er auftrat — das preußische Volk — ein sehr problematisches,
und er mußte sich in das Labyrinth der feudalen Stände verirren, um ihm eine
concretere Form zu geben.

Vincke hat aber sein Recht auch uicht als Jurist vertheidigt. Er hat es
wiederholt, und »och zuletzt in Erfurt, mit einem gewissen Behagen ausgesprochen,
daß er kein Jurist sei, und daß ihm bei spitzfindigen juristischen Deductionen
„so dumm werde, als ginge ihm ein Mühlrad im Kopf herum." Er hat der
Ncchtssophistik eines Savigny und Keller nicht den Scharfsinn einer gelehrten
Beweisführung, sondern den Witz des „gesunden Menschenverstands" entgegen¬
gesetzt. Der gesunde Menschenverstand ist zu sicher in seiner Anschauung der
Totalität, um sich dnrch das Detail verwirren zu lassen; er läßt sich in seiner
Ueberzeugung nicht stören, weil — er nicht will.

In der Kraft des Willens, nicht in der logischen Begründung, liegt die
Sicherheit dieses Rechtsbewußtseins. Ein fester Charakter setzt sich gern eine be¬
stimmte Grenze, über die er nicht zurückgeht, und er liebt es, diese als objectiv,
als gegeben zu betrachten. Diese äußerliche Basis, wenn ihre Kraft auch wesentlich
auf die subjective Kraft herauskommt, gibt dem Willen Form — Fa^on, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/174>, abgerufen am 22.07.2024.