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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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haben wird, sich auch für einen frei erfundenen Stoff zu erwärmen, ob seine
Phantasie sich durch Situationen und Figuren, welche aus seinem Innern kommen,
eben so gut wird reizen und in so energische Thätigkeit setzen lassen, als durch
wirklich Erlebtes, das von Außen her in ihn dringend, imponirt und seine Thätig¬
keit erregt hat. Ist dies der Fall, so haben nur in ihm eine bedeutende epische
Dichterkraft zu hoffen, welche schon jetzt, wo sie sich noch wenig erkannt hat, zu
imponiren vermag. Braucht aber seine Seele wirkliche Begebenheiten und starke
Eindrücke ans der Außenwelt, um Phantasie, Laune und Begeisterung zu finden,
so ist er, was er in diesem Werk erscheint, ein journalistisches Talent von merk¬
würdiger Organisation, wie wir sie in Deutschland gegenüber den Franzosen nud
Engländern leider nur in sehr geringer Anzahl besitzen.

Den reichen Inhalt des Werkes, welches vom Frühjahr 1848 anfängt und
mit einer Perspective auf Oestreichs gegenwärtige Lage und Zukunft schließt,
werden unsere Leser aus eigener Anschauung am besten kennen lernen. Eine
Anzahl offizieller Aktenstücke, vou denen einzelne neu sind, und Licht auf dunkle
Stellen der ungarischen Revolution werfen, geben dem Buch auch für den gelehr¬
ten Geschichtsforscher Bedeutung. Wir theilen eine Probe ans dem letzten Theil
des Werkes mit, charakteristisch für die technische Virtuosität des Verfassers. Es
ist das Ende des ungarischen Kampfes, die Katastrophe voll Tcmcsvar und Vilagos:

Temesvar ist eine starke Festung und hatte eine Heldenbesatzuug, die ihrer
werth war. Feldmarschall-Lieutenant Nukowiua, der sie befehligte, vertheidigte,
jede Aufforderung zur Uebergabe entschlossen ablehnend, alle Punkte der Stadt,
bis die Dächer über den Köpfen seiner Leute in Brand gesteckt wurden, bis die
Mauern zu Schutt znsannueusanken, und als scholl die sogenannte Fabrikvorstadt
von deu Houveds mit Sturm genommen wurde, zog er sich, wie der gehetzte
Dachs, in die entlegenste seiner Hohlen, in die eigentliche Festung zurück. Typhus,
Cholera, Wechselfieber und Noth erschütterten den Muth des alten Kriegers eben
so wenig wie die glühenden Kugeln Vecsey's, der die Festung nach dem Plane
Aschermanns belagerte. Er "teinte, es sei noch Zeit genug zum Capitulireu,
wenn erst seiue Leute das allerletzte Pferdgerippe abgenagt hätten, oder wie er
sich ausdrückte "bis das Schnupftuch in seiner Rocktasche in Brand geriethe." Der
tapfere Graukopf hatte nicht umsonst gewartet. Temesvar genoß das Glück, seine
Thore befreundeten Truppen zu öffnen. Im Angesichte der Festung, bei Kiö-
Becskerek wurde die letzte Entscheidungsschlacht geschlagen, und die Wagschaale
des Glückes schwankte lange unentschlossen, bis sie sich endlich zu Gunsten Hay-
uau's senkte.

Sein rechter Flügel war schon zurückgedrängt, nachdem die Reserve-Artillerie
und Division Pauiutiuc vergebens in's Treffen hineingezogen worden waren, der
linke Flügel war in Gefahr dnrch starke, hinter Busch und Wald verborgene,
Husarendetaschementö umgangen zu werden, Bem, welcher seine siebenbürger


haben wird, sich auch für einen frei erfundenen Stoff zu erwärmen, ob seine
Phantasie sich durch Situationen und Figuren, welche aus seinem Innern kommen,
eben so gut wird reizen und in so energische Thätigkeit setzen lassen, als durch
wirklich Erlebtes, das von Außen her in ihn dringend, imponirt und seine Thätig¬
keit erregt hat. Ist dies der Fall, so haben nur in ihm eine bedeutende epische
Dichterkraft zu hoffen, welche schon jetzt, wo sie sich noch wenig erkannt hat, zu
imponiren vermag. Braucht aber seine Seele wirkliche Begebenheiten und starke
Eindrücke ans der Außenwelt, um Phantasie, Laune und Begeisterung zu finden,
so ist er, was er in diesem Werk erscheint, ein journalistisches Talent von merk¬
würdiger Organisation, wie wir sie in Deutschland gegenüber den Franzosen nud
Engländern leider nur in sehr geringer Anzahl besitzen.

Den reichen Inhalt des Werkes, welches vom Frühjahr 1848 anfängt und
mit einer Perspective auf Oestreichs gegenwärtige Lage und Zukunft schließt,
werden unsere Leser aus eigener Anschauung am besten kennen lernen. Eine
Anzahl offizieller Aktenstücke, vou denen einzelne neu sind, und Licht auf dunkle
Stellen der ungarischen Revolution werfen, geben dem Buch auch für den gelehr¬
ten Geschichtsforscher Bedeutung. Wir theilen eine Probe ans dem letzten Theil
des Werkes mit, charakteristisch für die technische Virtuosität des Verfassers. Es
ist das Ende des ungarischen Kampfes, die Katastrophe voll Tcmcsvar und Vilagos:

Temesvar ist eine starke Festung und hatte eine Heldenbesatzuug, die ihrer
werth war. Feldmarschall-Lieutenant Nukowiua, der sie befehligte, vertheidigte,
jede Aufforderung zur Uebergabe entschlossen ablehnend, alle Punkte der Stadt,
bis die Dächer über den Köpfen seiner Leute in Brand gesteckt wurden, bis die
Mauern zu Schutt znsannueusanken, und als scholl die sogenannte Fabrikvorstadt
von deu Houveds mit Sturm genommen wurde, zog er sich, wie der gehetzte
Dachs, in die entlegenste seiner Hohlen, in die eigentliche Festung zurück. Typhus,
Cholera, Wechselfieber und Noth erschütterten den Muth des alten Kriegers eben
so wenig wie die glühenden Kugeln Vecsey's, der die Festung nach dem Plane
Aschermanns belagerte. Er »teinte, es sei noch Zeit genug zum Capitulireu,
wenn erst seiue Leute das allerletzte Pferdgerippe abgenagt hätten, oder wie er
sich ausdrückte „bis das Schnupftuch in seiner Rocktasche in Brand geriethe." Der
tapfere Graukopf hatte nicht umsonst gewartet. Temesvar genoß das Glück, seine
Thore befreundeten Truppen zu öffnen. Im Angesichte der Festung, bei Kiö-
Becskerek wurde die letzte Entscheidungsschlacht geschlagen, und die Wagschaale
des Glückes schwankte lange unentschlossen, bis sie sich endlich zu Gunsten Hay-
uau's senkte.

Sein rechter Flügel war schon zurückgedrängt, nachdem die Reserve-Artillerie
und Division Pauiutiuc vergebens in's Treffen hineingezogen worden waren, der
linke Flügel war in Gefahr dnrch starke, hinter Busch und Wald verborgene,
Husarendetaschementö umgangen zu werden, Bem, welcher seine siebenbürger


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/160>, abgerufen am 01.10.2024.