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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Kammer eine Mehrheit für die Verfassung vom 36. Mai nicht zu erreichen sei.
Selbst unter der Rechten daselbst gingen die Ansichten über den in dieser Frage
einzuschlagenden Weg nach allen Richtungen hin auseinander. Da war zuerst
eine absolut ministerielle, halb großdeutsche, halb für das specifische Sachsenthum
schwärmende Fraction; da waren Andere, welche auf neue Offenbarungen von
Seiten des Ministeriums oder auf neue Ereignisse warteten, die plötzlich das ge¬
trennte "Mittelreich" zur Wahrheit macheu sollten, und darum jede Entscheidung
so lauge als möglich offen halten wollten; eine dritte Fraction sah zwar die Noth¬
wendigkeit des Bundesstaates ein, aber es schien ihr bedenklich, sich ohne Weiteres
dafür zu erklären; als gute Juristen von altsächsischen Schrot wollten sie allerhaud
Clauseln, Reservationen und Fristen anbringen, um ja nichts zu übereilen; noch
ein Theil endlich hoffte auf eine Verständigung mit Baiern und warnte vor jedem
Schritte, der diese erschweren mochte. Derer, die, wie Carlo witz, entschieden
und rücksichtslos direct auf das Ziel losgingen, gab es nur eine sehr kleine Zahl.
Ohnedem war die Linke in der ersten Kammer verhältnißmäßig stärker, und der
Rechten, wenn diese nicht ganz fest zusammenhielt, viel mehr überlegen als in der
zweiten Kammer.

Bei solchen Aussichten ward die Frage: welche von beiden Kammern zuerst
in der deutschen Frage Beschluß "fassen solle, zu einer Lebensfrage für das Ge¬
lingen oder Mißlingen dieser Sache selbst. Daher ward in der Partei der Rechten
die Frage angeregt, ob es nicht gerathener sein mochte, durch Einbringung eines
besondern Antrags in der zweiten Kammer und schleimige Berichterstattung des
Ausschusses darüber die Initiative der Berathung und Beschlußfassung dorthin zu
übertragen. Aber theils formelle Bedenken, theils der Widerspruch, deu die
Mitglieder der ersten Kammer dagegen erhoben, ließen den Gedanken nicht zur
Ausführung kommen. Indessen traten die Vorfälle des 7. Januar in Berlin da¬
zwischen, welche die ganze Bewegung nach dem Bundesstaate hin für einen Augen¬
blick in's Stocken brachten. Durch sie ward auch das, was man bisher für sicher
halten durfte, vou Neuem schwankend. Man konnte jetzt ebensowenig in der
zweiten als in der ersten Kammer auf eine Mehrheit in der deutschen Frage mit
nur ewiger Zuverlässigkeit rechnen. Der Ausschuß der ersten Kammer stellte seiue
Arbeiten ein, ohnstreitig um die Entwickelung der Ereignisse abzuwarten; aber
auch der Ausschuß der zweiten Kammer schien wenig Neigung zu haben, inmitten
dieser Ungewißheit voranzugehen. So war man ans allen Seiten mehrere Wochen
lang unthätig.

Endlich, am 15. Februar, kam in der ersten Kammer der Bericht des Aus¬
schusses zur Verlesung. Er gewährte ein trostloses Bild von der Zerrissenheit der
Kammer in ihren Ansichten über die deutsche Frage. Der Ausschuß, aus fünf
Personen bestehend, ging in vier verschiedene Richtungen auseinander, von denen
nur eine einzige zwei Mitglieder in sich vereinigte, aber auch dies nur dadurch,


Kammer eine Mehrheit für die Verfassung vom 36. Mai nicht zu erreichen sei.
Selbst unter der Rechten daselbst gingen die Ansichten über den in dieser Frage
einzuschlagenden Weg nach allen Richtungen hin auseinander. Da war zuerst
eine absolut ministerielle, halb großdeutsche, halb für das specifische Sachsenthum
schwärmende Fraction; da waren Andere, welche auf neue Offenbarungen von
Seiten des Ministeriums oder auf neue Ereignisse warteten, die plötzlich das ge¬
trennte „Mittelreich" zur Wahrheit macheu sollten, und darum jede Entscheidung
so lauge als möglich offen halten wollten; eine dritte Fraction sah zwar die Noth¬
wendigkeit des Bundesstaates ein, aber es schien ihr bedenklich, sich ohne Weiteres
dafür zu erklären; als gute Juristen von altsächsischen Schrot wollten sie allerhaud
Clauseln, Reservationen und Fristen anbringen, um ja nichts zu übereilen; noch
ein Theil endlich hoffte auf eine Verständigung mit Baiern und warnte vor jedem
Schritte, der diese erschweren mochte. Derer, die, wie Carlo witz, entschieden
und rücksichtslos direct auf das Ziel losgingen, gab es nur eine sehr kleine Zahl.
Ohnedem war die Linke in der ersten Kammer verhältnißmäßig stärker, und der
Rechten, wenn diese nicht ganz fest zusammenhielt, viel mehr überlegen als in der
zweiten Kammer.

Bei solchen Aussichten ward die Frage: welche von beiden Kammern zuerst
in der deutschen Frage Beschluß «fassen solle, zu einer Lebensfrage für das Ge¬
lingen oder Mißlingen dieser Sache selbst. Daher ward in der Partei der Rechten
die Frage angeregt, ob es nicht gerathener sein mochte, durch Einbringung eines
besondern Antrags in der zweiten Kammer und schleimige Berichterstattung des
Ausschusses darüber die Initiative der Berathung und Beschlußfassung dorthin zu
übertragen. Aber theils formelle Bedenken, theils der Widerspruch, deu die
Mitglieder der ersten Kammer dagegen erhoben, ließen den Gedanken nicht zur
Ausführung kommen. Indessen traten die Vorfälle des 7. Januar in Berlin da¬
zwischen, welche die ganze Bewegung nach dem Bundesstaate hin für einen Augen¬
blick in's Stocken brachten. Durch sie ward auch das, was man bisher für sicher
halten durfte, vou Neuem schwankend. Man konnte jetzt ebensowenig in der
zweiten als in der ersten Kammer auf eine Mehrheit in der deutschen Frage mit
nur ewiger Zuverlässigkeit rechnen. Der Ausschuß der ersten Kammer stellte seiue
Arbeiten ein, ohnstreitig um die Entwickelung der Ereignisse abzuwarten; aber
auch der Ausschuß der zweiten Kammer schien wenig Neigung zu haben, inmitten
dieser Ungewißheit voranzugehen. So war man ans allen Seiten mehrere Wochen
lang unthätig.

Endlich, am 15. Februar, kam in der ersten Kammer der Bericht des Aus¬
schusses zur Verlesung. Er gewährte ein trostloses Bild von der Zerrissenheit der
Kammer in ihren Ansichten über die deutsche Frage. Der Ausschuß, aus fünf
Personen bestehend, ging in vier verschiedene Richtungen auseinander, von denen
nur eine einzige zwei Mitglieder in sich vereinigte, aber auch dies nur dadurch,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/12>, abgerufen am 24.08.2024.