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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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ernähren möchten. Seppl und Haust glotzen in die Höhe und stehen wie die
Holzscheiter, denn die treuherzige Stimme kam nicht aus ihren vor Staunen auf¬
gerissenen Mäulern, sie kam von einem Mann in Glacehandschuhen und lackirten
Stiefeln, dew, scheinbar stumm, in der Fensternische hinter dem Kaiser lehnt. --

Diese Kunst moralischer Bauchrednerei versteht Haus Jörgel meisterhaft; eine
Portion von derbem Humor, der ihm zu Gebote steht, macht die Täuschung bei¬
nahe vollkommen. Als die neue Zeit kam, wußte sich Hans Jörgel geschickt
zu häuten und wurde der mundartliche Anwalt des allerbcsonnensteu Fortschritts;
uach dem October machten seine raffinirten Auschwärznngen und der napolctanische
Blutdurst seiner Tiraden durch die gemüthliche Volkssprache, in die er sie zu
kleiden fortfuhr, eiuen doppelt widerlichen Eindruck.

An einem Zuge werden Sie den ganzen Jörgel und seinen Liberalismus ken¬
nen lernen. Er hat Monate laug von der Leiche Latour'S gelebt. Die Frage
Gottes an Kain parodirend, rief er allwöchentlich: "Reichstag, wo is Latour?"
Wie stark der in dieser Frage liegende Vergleich hinkt, focht ihn nicht an. Rache
und Gerechtigkeit sind ihm so gleichbedeutend, daß er mit dem Ausruf: "Latour!"
die grellsten Thaten der Willkür, Grausamkeit und Dummheit heilig sprach.
Seufzte ein liberales Blatt über das viele Hängen und Todtschießen, über die
boshafte Asscutiruug verheiratheter, kränklicher, nnpflichtiger Leute, über das
Auspeitschen vou Frauen, oder sonst eine Verletzung vor- wie nachmärzlichcr
Gesetze, so rief Hans Jörgel: "He! Aber Latour haben'ö aufhängen dürfen, nit
wahr? Dos Lumpcuvolk greint, weil a paar Mailänder Hundsvöttcr aufm Platz
ihre verdienten Pinhas (Stockstreiche) kriegt haben, aber an Latour Haben's vergessen!"

Hans Jörgel ist übrigens noch grade so freimüthig wie vor dem März; gegen
Unten entschieden und rücksichtslos, reicht sein Freimuth gegen Oben nicht über
den Gemeinderath, eine bürgerliche, qnasimvdcrue Behörde, hinaus. Er ist streng
und hält mit Recht nicht viel von dem Talgenthusiasmus der Wiener Jllumina-
tioueu, so wie er die jetzige Loyalität des Gemeinderaths von Wien, ebenfalls
mit Recht, pure Feigheit nennt. T"> verlangst aber zu viel, Jörgel, Du forderst
Hundenatur, verbunden mit menschlicher Begeisterung. Wie reimt sich das zu¬
sammen? Sei froh, daß Dein Brustkasten nicht von Glas ist; könnte man Dir
in's Allerheiligste schaue", vielleicht fände sich, daß auch Dein Servilismus uicht
vom Herzen, sondern aus einer tiefer liegenden Region stammt.

Jörgel'ö Hauptpublikum bilden die Pfarrer in Wien und auf dem Lande,
denen er bei ihren Predigten als Souffleur dient. Allein sie verfangen nicht mehr.
Seppl und Haust sind längst hinter die Kunststückchen des Wiener Beamten ge¬
kommen. Das Volk in den Vorstädten und auf dem Lande ist so überwiegend libe¬
ral, daß Niemand weniger die Volksstimmung ausdrückt als der angebliche Mann
aus dem Volk, Hans Jörgel.


ernähren möchten. Seppl und Haust glotzen in die Höhe und stehen wie die
Holzscheiter, denn die treuherzige Stimme kam nicht aus ihren vor Staunen auf¬
gerissenen Mäulern, sie kam von einem Mann in Glacehandschuhen und lackirten
Stiefeln, dew, scheinbar stumm, in der Fensternische hinter dem Kaiser lehnt. —

Diese Kunst moralischer Bauchrednerei versteht Haus Jörgel meisterhaft; eine
Portion von derbem Humor, der ihm zu Gebote steht, macht die Täuschung bei¬
nahe vollkommen. Als die neue Zeit kam, wußte sich Hans Jörgel geschickt
zu häuten und wurde der mundartliche Anwalt des allerbcsonnensteu Fortschritts;
uach dem October machten seine raffinirten Auschwärznngen und der napolctanische
Blutdurst seiner Tiraden durch die gemüthliche Volkssprache, in die er sie zu
kleiden fortfuhr, eiuen doppelt widerlichen Eindruck.

An einem Zuge werden Sie den ganzen Jörgel und seinen Liberalismus ken¬
nen lernen. Er hat Monate laug von der Leiche Latour'S gelebt. Die Frage
Gottes an Kain parodirend, rief er allwöchentlich: „Reichstag, wo is Latour?"
Wie stark der in dieser Frage liegende Vergleich hinkt, focht ihn nicht an. Rache
und Gerechtigkeit sind ihm so gleichbedeutend, daß er mit dem Ausruf: „Latour!"
die grellsten Thaten der Willkür, Grausamkeit und Dummheit heilig sprach.
Seufzte ein liberales Blatt über das viele Hängen und Todtschießen, über die
boshafte Asscutiruug verheiratheter, kränklicher, nnpflichtiger Leute, über das
Auspeitschen vou Frauen, oder sonst eine Verletzung vor- wie nachmärzlichcr
Gesetze, so rief Hans Jörgel: „He! Aber Latour haben'ö aufhängen dürfen, nit
wahr? Dos Lumpcuvolk greint, weil a paar Mailänder Hundsvöttcr aufm Platz
ihre verdienten Pinhas (Stockstreiche) kriegt haben, aber an Latour Haben's vergessen!"

Hans Jörgel ist übrigens noch grade so freimüthig wie vor dem März; gegen
Unten entschieden und rücksichtslos, reicht sein Freimuth gegen Oben nicht über
den Gemeinderath, eine bürgerliche, qnasimvdcrue Behörde, hinaus. Er ist streng
und hält mit Recht nicht viel von dem Talgenthusiasmus der Wiener Jllumina-
tioueu, so wie er die jetzige Loyalität des Gemeinderaths von Wien, ebenfalls
mit Recht, pure Feigheit nennt. T»> verlangst aber zu viel, Jörgel, Du forderst
Hundenatur, verbunden mit menschlicher Begeisterung. Wie reimt sich das zu¬
sammen? Sei froh, daß Dein Brustkasten nicht von Glas ist; könnte man Dir
in's Allerheiligste schaue», vielleicht fände sich, daß auch Dein Servilismus uicht
vom Herzen, sondern aus einer tiefer liegenden Region stammt.

Jörgel'ö Hauptpublikum bilden die Pfarrer in Wien und auf dem Lande,
denen er bei ihren Predigten als Souffleur dient. Allein sie verfangen nicht mehr.
Seppl und Haust sind längst hinter die Kunststückchen des Wiener Beamten ge¬
kommen. Das Volk in den Vorstädten und auf dem Lande ist so überwiegend libe¬
ral, daß Niemand weniger die Volksstimmung ausdrückt als der angebliche Mann
aus dem Volk, Hans Jörgel.


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[0475] ernähren möchten. Seppl und Haust glotzen in die Höhe und stehen wie die Holzscheiter, denn die treuherzige Stimme kam nicht aus ihren vor Staunen auf¬ gerissenen Mäulern, sie kam von einem Mann in Glacehandschuhen und lackirten Stiefeln, dew, scheinbar stumm, in der Fensternische hinter dem Kaiser lehnt. — Diese Kunst moralischer Bauchrednerei versteht Haus Jörgel meisterhaft; eine Portion von derbem Humor, der ihm zu Gebote steht, macht die Täuschung bei¬ nahe vollkommen. Als die neue Zeit kam, wußte sich Hans Jörgel geschickt zu häuten und wurde der mundartliche Anwalt des allerbcsonnensteu Fortschritts; uach dem October machten seine raffinirten Auschwärznngen und der napolctanische Blutdurst seiner Tiraden durch die gemüthliche Volkssprache, in die er sie zu kleiden fortfuhr, eiuen doppelt widerlichen Eindruck. An einem Zuge werden Sie den ganzen Jörgel und seinen Liberalismus ken¬ nen lernen. Er hat Monate laug von der Leiche Latour'S gelebt. Die Frage Gottes an Kain parodirend, rief er allwöchentlich: „Reichstag, wo is Latour?" Wie stark der in dieser Frage liegende Vergleich hinkt, focht ihn nicht an. Rache und Gerechtigkeit sind ihm so gleichbedeutend, daß er mit dem Ausruf: „Latour!" die grellsten Thaten der Willkür, Grausamkeit und Dummheit heilig sprach. Seufzte ein liberales Blatt über das viele Hängen und Todtschießen, über die boshafte Asscutiruug verheiratheter, kränklicher, nnpflichtiger Leute, über das Auspeitschen vou Frauen, oder sonst eine Verletzung vor- wie nachmärzlichcr Gesetze, so rief Hans Jörgel: „He! Aber Latour haben'ö aufhängen dürfen, nit wahr? Dos Lumpcuvolk greint, weil a paar Mailänder Hundsvöttcr aufm Platz ihre verdienten Pinhas (Stockstreiche) kriegt haben, aber an Latour Haben's vergessen!" Hans Jörgel ist übrigens noch grade so freimüthig wie vor dem März; gegen Unten entschieden und rücksichtslos, reicht sein Freimuth gegen Oben nicht über den Gemeinderath, eine bürgerliche, qnasimvdcrue Behörde, hinaus. Er ist streng und hält mit Recht nicht viel von dem Talgenthusiasmus der Wiener Jllumina- tioueu, so wie er die jetzige Loyalität des Gemeinderaths von Wien, ebenfalls mit Recht, pure Feigheit nennt. T»> verlangst aber zu viel, Jörgel, Du forderst Hundenatur, verbunden mit menschlicher Begeisterung. Wie reimt sich das zu¬ sammen? Sei froh, daß Dein Brustkasten nicht von Glas ist; könnte man Dir in's Allerheiligste schaue», vielleicht fände sich, daß auch Dein Servilismus uicht vom Herzen, sondern aus einer tiefer liegenden Region stammt. Jörgel'ö Hauptpublikum bilden die Pfarrer in Wien und auf dem Lande, denen er bei ihren Predigten als Souffleur dient. Allein sie verfangen nicht mehr. Seppl und Haust sind längst hinter die Kunststückchen des Wiener Beamten ge¬ kommen. Das Volk in den Vorstädten und auf dem Lande ist so überwiegend libe¬ ral, daß Niemand weniger die Volksstimmung ausdrückt als der angebliche Mann aus dem Volk, Hans Jörgel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/475>, abgerufen am 15.01.2025.