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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Der Romantiker erlaubt es nicht nur, sondern er liebt es, den Vers
durch kleine Abschnitte -- dem Satzbau wie dem Gedanken nach -- zu zerhacken.
Victor Hugo's dramatischer Vers ist reich an Beispielen, und Freiligrath, dessen
Lyrik überhaupt ganz ans Victor Hugo basirt, hat diesem romantisirten Alexan¬
driner das Bürgerrecht in Deutschland verschafft. Die zweite Freiheit besteht
darin, die Periode über die rhythmische. Antithese auszudehnen, wie in den römi¬
schen Strophen. Die langweilige Cadenz des Alexandriners wird freilich damit
aufgehoben, aber auch der Sinn des ganzen Verses.

So sollte der dramatische Vers Alles ertragen, lateinische und griechische Ci¬
tate, Gesetzesstellen, königliche Flüche, wie das Venere 8t. 6ri8 Heinrich's IV.,
sprichwörtliche Redensarten u. s. w. Victor Hugo bat diese Freiheit redlich be¬
nutzt, aber was in dem fünffüßigen Jambus ganz in der Ordnung ist, sticht son¬
derbar ab gegen die gleichmäßigen Cadenzen des Alexandriners. Darum ist die
Sprache sämmtlicher Dramen aus der romantischen Schule, die in Prosa geschrie¬
ben sind, ungleich natürlicher und selbst edler und poetischer, als die versisicirte.

Schon aus dieser einzelnen Andeutung geht hervor, daß die Lyrik -- die
übrigens mit der unsrigen das gemein hat, daß sie sich gegenseitig unausgesetzt
ansinge und in Cmnplimcnten überbietet -- mit ihrer Stimmung ganz anf's
Aeußerliche gerichtet war. Indem wir Victor Hugo's Entwickelung im Einzelnen
verfolgen, finden wir die Bestätigung.

In den realistischen Oden ist, was die Poesie betrifft, nichts Selbstständiges.
Nur in dem 5. Buch der Oden finden wir, was wir in den Malern Gedichten
vergebens suchen, eine wirkliche Empfindung, die nach einem Ausdruck strebt,
wenn sie auch uoch uicht geschickt genug ist, deu angemessenen zu finden. Für uns
ist freilich in der Sprache der Liebeslieder etwas Zopf, nud Gedanken, wie der
in der Ode an Chateaubriand: Nullieur -i 1'lunae alö I-i t^i -t! "mi, lliuis co
monllv iii^usto vt Viün, !,l>i to ,in 8VI1 im"! "olitiüio "II rilyvn no I'esnrit divin!
sind uns dnrch die Freiligrath'schen Reproductionen verhaßt geworden. Schon
hier beginnen diese rein äußerlichen Schilderungen, die nur durch den subjectiven
Contrast einen Eindruck machen sollen. Das beste Beispiel ist der Gesang des
Circus. In den Strophen werden die Leiden der unglücklichen Gefangenen ge¬
schildert, die den wilden Thieren vorgeworfen werden sollen, und dann als Pointe,
der Refrain eingeschoben: niiuco imnwitvl ^ufte, Os-rr, suis fuluo nur
":vux lini vont momii-! (iViaritui'i to snlutiuit). Eine solche blos epigrammatische
Pointe widerspricht dem eigentlichen Sinne des Liedes, dnrch ein in rhythmischer
Reinheit ausgedichtetes Bild eine bestimmte Empfindung und Stimmung hervor¬
zurufen. In was für eine Stimmung soll es uns versetzen, wenn wir nebeneinan¬
der lesen: "Bald, wenn die wilden Thiere heulen, wird man die Schlachtopfer
Mit Lanzenstößen ihnen entgegentreiben. Ein Purpnrbaldachin breitet sich über
des Kaisers Thron, damit ein milderes Licht während des heißen Festes den go'et?


Der Romantiker erlaubt es nicht nur, sondern er liebt es, den Vers
durch kleine Abschnitte — dem Satzbau wie dem Gedanken nach — zu zerhacken.
Victor Hugo's dramatischer Vers ist reich an Beispielen, und Freiligrath, dessen
Lyrik überhaupt ganz ans Victor Hugo basirt, hat diesem romantisirten Alexan¬
driner das Bürgerrecht in Deutschland verschafft. Die zweite Freiheit besteht
darin, die Periode über die rhythmische. Antithese auszudehnen, wie in den römi¬
schen Strophen. Die langweilige Cadenz des Alexandriners wird freilich damit
aufgehoben, aber auch der Sinn des ganzen Verses.

So sollte der dramatische Vers Alles ertragen, lateinische und griechische Ci¬
tate, Gesetzesstellen, königliche Flüche, wie das Venere 8t. 6ri8 Heinrich's IV.,
sprichwörtliche Redensarten u. s. w. Victor Hugo bat diese Freiheit redlich be¬
nutzt, aber was in dem fünffüßigen Jambus ganz in der Ordnung ist, sticht son¬
derbar ab gegen die gleichmäßigen Cadenzen des Alexandriners. Darum ist die
Sprache sämmtlicher Dramen aus der romantischen Schule, die in Prosa geschrie¬
ben sind, ungleich natürlicher und selbst edler und poetischer, als die versisicirte.

Schon aus dieser einzelnen Andeutung geht hervor, daß die Lyrik — die
übrigens mit der unsrigen das gemein hat, daß sie sich gegenseitig unausgesetzt
ansinge und in Cmnplimcnten überbietet — mit ihrer Stimmung ganz anf's
Aeußerliche gerichtet war. Indem wir Victor Hugo's Entwickelung im Einzelnen
verfolgen, finden wir die Bestätigung.

In den realistischen Oden ist, was die Poesie betrifft, nichts Selbstständiges.
Nur in dem 5. Buch der Oden finden wir, was wir in den Malern Gedichten
vergebens suchen, eine wirkliche Empfindung, die nach einem Ausdruck strebt,
wenn sie auch uoch uicht geschickt genug ist, deu angemessenen zu finden. Für uns
ist freilich in der Sprache der Liebeslieder etwas Zopf, nud Gedanken, wie der
in der Ode an Chateaubriand: Nullieur -i 1'lunae alö I-i t^i -t! «mi, lliuis co
monllv iii^usto vt Viün, !,l>i to ,in 8VI1 im«! «olitiüio »II rilyvn no I'esnrit divin!
sind uns dnrch die Freiligrath'schen Reproductionen verhaßt geworden. Schon
hier beginnen diese rein äußerlichen Schilderungen, die nur durch den subjectiven
Contrast einen Eindruck machen sollen. Das beste Beispiel ist der Gesang des
Circus. In den Strophen werden die Leiden der unglücklichen Gefangenen ge¬
schildert, die den wilden Thieren vorgeworfen werden sollen, und dann als Pointe,
der Refrain eingeschoben: niiuco imnwitvl ^ufte, Os-rr, suis fuluo nur
«:vux lini vont momii-! (iViaritui'i to snlutiuit). Eine solche blos epigrammatische
Pointe widerspricht dem eigentlichen Sinne des Liedes, dnrch ein in rhythmischer
Reinheit ausgedichtetes Bild eine bestimmte Empfindung und Stimmung hervor¬
zurufen. In was für eine Stimmung soll es uns versetzen, wenn wir nebeneinan¬
der lesen: „Bald, wenn die wilden Thiere heulen, wird man die Schlachtopfer
Mit Lanzenstößen ihnen entgegentreiben. Ein Purpnrbaldachin breitet sich über
des Kaisers Thron, damit ein milderes Licht während des heißen Festes den go'et?


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[0424] Der Romantiker erlaubt es nicht nur, sondern er liebt es, den Vers durch kleine Abschnitte — dem Satzbau wie dem Gedanken nach — zu zerhacken. Victor Hugo's dramatischer Vers ist reich an Beispielen, und Freiligrath, dessen Lyrik überhaupt ganz ans Victor Hugo basirt, hat diesem romantisirten Alexan¬ driner das Bürgerrecht in Deutschland verschafft. Die zweite Freiheit besteht darin, die Periode über die rhythmische. Antithese auszudehnen, wie in den römi¬ schen Strophen. Die langweilige Cadenz des Alexandriners wird freilich damit aufgehoben, aber auch der Sinn des ganzen Verses. So sollte der dramatische Vers Alles ertragen, lateinische und griechische Ci¬ tate, Gesetzesstellen, königliche Flüche, wie das Venere 8t. 6ri8 Heinrich's IV., sprichwörtliche Redensarten u. s. w. Victor Hugo bat diese Freiheit redlich be¬ nutzt, aber was in dem fünffüßigen Jambus ganz in der Ordnung ist, sticht son¬ derbar ab gegen die gleichmäßigen Cadenzen des Alexandriners. Darum ist die Sprache sämmtlicher Dramen aus der romantischen Schule, die in Prosa geschrie¬ ben sind, ungleich natürlicher und selbst edler und poetischer, als die versisicirte. Schon aus dieser einzelnen Andeutung geht hervor, daß die Lyrik — die übrigens mit der unsrigen das gemein hat, daß sie sich gegenseitig unausgesetzt ansinge und in Cmnplimcnten überbietet — mit ihrer Stimmung ganz anf's Aeußerliche gerichtet war. Indem wir Victor Hugo's Entwickelung im Einzelnen verfolgen, finden wir die Bestätigung. In den realistischen Oden ist, was die Poesie betrifft, nichts Selbstständiges. Nur in dem 5. Buch der Oden finden wir, was wir in den Malern Gedichten vergebens suchen, eine wirkliche Empfindung, die nach einem Ausdruck strebt, wenn sie auch uoch uicht geschickt genug ist, deu angemessenen zu finden. Für uns ist freilich in der Sprache der Liebeslieder etwas Zopf, nud Gedanken, wie der in der Ode an Chateaubriand: Nullieur -i 1'lunae alö I-i t^i -t! «mi, lliuis co monllv iii^usto vt Viün, !,l>i to ,in 8VI1 im«! «olitiüio »II rilyvn no I'esnrit divin! sind uns dnrch die Freiligrath'schen Reproductionen verhaßt geworden. Schon hier beginnen diese rein äußerlichen Schilderungen, die nur durch den subjectiven Contrast einen Eindruck machen sollen. Das beste Beispiel ist der Gesang des Circus. In den Strophen werden die Leiden der unglücklichen Gefangenen ge¬ schildert, die den wilden Thieren vorgeworfen werden sollen, und dann als Pointe, der Refrain eingeschoben: niiuco imnwitvl ^ufte, Os-rr, suis fuluo nur «:vux lini vont momii-! (iViaritui'i to snlutiuit). Eine solche blos epigrammatische Pointe widerspricht dem eigentlichen Sinne des Liedes, dnrch ein in rhythmischer Reinheit ausgedichtetes Bild eine bestimmte Empfindung und Stimmung hervor¬ zurufen. In was für eine Stimmung soll es uns versetzen, wenn wir nebeneinan¬ der lesen: „Bald, wenn die wilden Thiere heulen, wird man die Schlachtopfer Mit Lanzenstößen ihnen entgegentreiben. Ein Purpnrbaldachin breitet sich über des Kaisers Thron, damit ein milderes Licht während des heißen Festes den go'et?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/424>, abgerufen am 15.01.2025.