Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.Interessen von den allgemeinen der Gesellschaft. Der liederliche ist der schlechteste Wenn man die moderne französische Poesie verfolgt, so glaubt man, sich in Interessen von den allgemeinen der Gesellschaft. Der liederliche ist der schlechteste Wenn man die moderne französische Poesie verfolgt, so glaubt man, sich in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0256" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279804"/> <p xml:id="ID_894" prev="#ID_893"> Interessen von den allgemeinen der Gesellschaft. Der liederliche ist der schlechteste<lb/> Egoist, weil seine Beschäftigung den geringsten objectiven Werth hat. In der.<lb/> Regel ist stark hervortretender Egoismus, wenn er sich mit einer gewissen Prä¬<lb/> tension geltend zu machen weiß, ein sicheres Zeichen von der Fäulniß der Gesell¬<lb/> schaft, die eben darin besteht, daß der Einzelne sich nicht mehr innerhalb der<lb/> Gesellschaft realisiren mag. Die Zeiten eines Nero, einer Messaline, eines Helio-<lb/> gabal sind darum so reich an praktischen Don Juans, weil aller praktische Ver¬<lb/> stand aufgehört hatte. Wer das Mittel in Händen hatte, kam in der Unruhe<lb/> seiner Gelüste auf die wahnsinnigsten Einfälle, er ließ sich ein Gericht Pfanen-<lb/> zungen kochen, oder er ließ Tausend Sklaven von wilden Bestien zerreißen, um<lb/> seine abgestumpften Sinne zu kitzeln, oder er zündete, um ein recht kolossales<lb/> Schauspiel zu haben, die Stadt der Cäsaren an. Wer die Mittel nicht hatte,<lb/> ersetzte den wirklichen Genuß durch phantastischen, er wurde z. B. Christ, wozu<lb/> übrigens auch der Mächtigste zuletzt kommen mußte, weil ihm endlich zur Lust die<lb/> physische Befähigung abging. Schon jene Hinrichtungen sind eigentlich ein blos<lb/> phantastischer, eingebildeter Genuß. —</p><lb/> <p xml:id="ID_895" next="#ID_896"> Wenn man die moderne französische Poesie verfolgt, so glaubt man, sich in<lb/> schlechten Reminiscenzen aus dem römischen Kaiserreich zu bewegen. Zuerst ist die<lb/> Unsittlichkeit noch naiv — ich erinnere an die Chronik des Oeil de boeuf, die<lb/> Memoiren des Ritter Lauznn, die Geschichte der Ninon de l'Enclos, die Romane<lb/> des jüngern Crcbillon und Andere — diese eben so lustigen als kläglichen Bilder<lb/> von den Roues aus den Zeiten der Regentschaft. DaS Eigenthümliche und Hä߬<lb/> liche ist nnr, daß man bei den wüsten Orgien der Leidenschaft, daß man selbst<lb/> im Rausch eiskalt und nüchtern bleibt, daß man selbst im SinncStanmel weltlich<lb/> reflectirt. Dann kommt aber ein zweites Moment hinzu, hervorgegangen ans dem<lb/> Gcdankenvorrath, den die neue Zeit nicht überwinden kann, so sehr sie sich in<lb/> Materialismus versenkt; das Bestreben, auch das Geistige zu corrumpiren. Ein<lb/> sehr lehrreiches Buch sind in dieser Beziehung die l/i-ki«»,,« cum^orvusos. Der<lb/> Non«, welcher die Hauptrolle spielt, will die tugendhafte Frau eines Andern ver¬<lb/> führen, in die er beiläufig wirklich verliebt ist. Der natürliche Weg wäre, ihr<lb/> die tugendhaften Bedeuten auszureden, oder sie wenigstens durch Sinnlichkeit zu<lb/> übertäuben. Aber das genügt unserm Don Juan nicht. Im Gegeutheil schärft<lb/> er ihre Gewissensbisse, und trotzdem muß sie sein werden; er weidet sich an ihren<lb/> geistigen Qualen, wie Nero am Schmerzgehenl der Opfer, die er schinden oder<lb/> laugsam verbrennen ließ. Zuletzt, als ihm nichts mehr zu wünschen übrig bleibt,<lb/> schreibt er ihr einen lakonischer Brief: „Liebes Kind, ich habe mir nur einen<lb/> Spaß mit dir gemacht, geh' in Gottes Namen zu deinem lieben Mann zurück."<lb/> Und wozu das alles? Um einer ganz verderbten Frau, der Theilnehmerin seiner<lb/> frühern Laster, gegenüber, mit einer noch größern Verderbtheit renommiren zu<lb/> können. Diese Frau übersteht und betrügt ihn, die Andere stirbt, er steht als</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0256]
Interessen von den allgemeinen der Gesellschaft. Der liederliche ist der schlechteste
Egoist, weil seine Beschäftigung den geringsten objectiven Werth hat. In der.
Regel ist stark hervortretender Egoismus, wenn er sich mit einer gewissen Prä¬
tension geltend zu machen weiß, ein sicheres Zeichen von der Fäulniß der Gesell¬
schaft, die eben darin besteht, daß der Einzelne sich nicht mehr innerhalb der
Gesellschaft realisiren mag. Die Zeiten eines Nero, einer Messaline, eines Helio-
gabal sind darum so reich an praktischen Don Juans, weil aller praktische Ver¬
stand aufgehört hatte. Wer das Mittel in Händen hatte, kam in der Unruhe
seiner Gelüste auf die wahnsinnigsten Einfälle, er ließ sich ein Gericht Pfanen-
zungen kochen, oder er ließ Tausend Sklaven von wilden Bestien zerreißen, um
seine abgestumpften Sinne zu kitzeln, oder er zündete, um ein recht kolossales
Schauspiel zu haben, die Stadt der Cäsaren an. Wer die Mittel nicht hatte,
ersetzte den wirklichen Genuß durch phantastischen, er wurde z. B. Christ, wozu
übrigens auch der Mächtigste zuletzt kommen mußte, weil ihm endlich zur Lust die
physische Befähigung abging. Schon jene Hinrichtungen sind eigentlich ein blos
phantastischer, eingebildeter Genuß. —
Wenn man die moderne französische Poesie verfolgt, so glaubt man, sich in
schlechten Reminiscenzen aus dem römischen Kaiserreich zu bewegen. Zuerst ist die
Unsittlichkeit noch naiv — ich erinnere an die Chronik des Oeil de boeuf, die
Memoiren des Ritter Lauznn, die Geschichte der Ninon de l'Enclos, die Romane
des jüngern Crcbillon und Andere — diese eben so lustigen als kläglichen Bilder
von den Roues aus den Zeiten der Regentschaft. DaS Eigenthümliche und Hä߬
liche ist nnr, daß man bei den wüsten Orgien der Leidenschaft, daß man selbst
im Rausch eiskalt und nüchtern bleibt, daß man selbst im SinncStanmel weltlich
reflectirt. Dann kommt aber ein zweites Moment hinzu, hervorgegangen ans dem
Gcdankenvorrath, den die neue Zeit nicht überwinden kann, so sehr sie sich in
Materialismus versenkt; das Bestreben, auch das Geistige zu corrumpiren. Ein
sehr lehrreiches Buch sind in dieser Beziehung die l/i-ki«»,,« cum^orvusos. Der
Non«, welcher die Hauptrolle spielt, will die tugendhafte Frau eines Andern ver¬
führen, in die er beiläufig wirklich verliebt ist. Der natürliche Weg wäre, ihr
die tugendhaften Bedeuten auszureden, oder sie wenigstens durch Sinnlichkeit zu
übertäuben. Aber das genügt unserm Don Juan nicht. Im Gegeutheil schärft
er ihre Gewissensbisse, und trotzdem muß sie sein werden; er weidet sich an ihren
geistigen Qualen, wie Nero am Schmerzgehenl der Opfer, die er schinden oder
laugsam verbrennen ließ. Zuletzt, als ihm nichts mehr zu wünschen übrig bleibt,
schreibt er ihr einen lakonischer Brief: „Liebes Kind, ich habe mir nur einen
Spaß mit dir gemacht, geh' in Gottes Namen zu deinem lieben Mann zurück."
Und wozu das alles? Um einer ganz verderbten Frau, der Theilnehmerin seiner
frühern Laster, gegenüber, mit einer noch größern Verderbtheit renommiren zu
können. Diese Frau übersteht und betrügt ihn, die Andere stirbt, er steht als
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |