Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.Der Berliner ist vor Allem Mvdemensch; der Mode huldigt er, sei es im Schnitt Wir reden hier von der eigentlichen, wirklichen Volksmacht Berlins: dem Bürger- Dieser Fraktion gegenüber entfaltet die reactionäre Partei mit mindern: Geräusch Und die öffentliche Meinung, die sich im Volke deutlich und vernehmlich aussprechen Der Berliner ist vor Allem Mvdemensch; der Mode huldigt er, sei es im Schnitt Wir reden hier von der eigentlichen, wirklichen Volksmacht Berlins: dem Bürger- Dieser Fraktion gegenüber entfaltet die reactionäre Partei mit mindern: Geräusch Und die öffentliche Meinung, die sich im Volke deutlich und vernehmlich aussprechen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0240" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279788"/> <p xml:id="ID_831"> Der Berliner ist vor Allem Mvdemensch; der Mode huldigt er, sei es im Schnitt<lb/> des Fracks oder der Verfassung; so lauge die Mode hält, hält auch er unverbrüchlich<lb/> an ihr fest. Jetzt ist die Passivität an der Tagesmode, und er bleibt ihr treu im<lb/> „Widerstand" wie in der Förderung. Aber sein jetziges Verhalten geht nicht hervor<lb/> aus einem wirklichen Umschwung der Meinung, einer festen Ueberzeugung; es ist nicht<lb/> Furcht, bloße Herabstimmung oder Besonnenheit, — es ist der bravste und vollstän¬<lb/> digste Jndifferentismus.</p><lb/> <p xml:id="ID_832"> Wir reden hier von der eigentlichen, wirklichen Volksmacht Berlins: dem Bürger-<lb/> thum. Die Anhänger des alten Systems sind rührig, und die Demokratie war nie<lb/> thätiger, nie vortrefflicher vrganistrt als grade jetzt. Ganz Berlin ist von ihr in<lb/> Sectionen getheilt; ein Centralcomw- leitet das Ganze; die Scctiouscomit^s haben ihre<lb/> Vertrauensmänner, diese ihre Agenten, denen in jedem Bezirke eine Anzahl von Stra¬<lb/> ßen mit den Wohnungen der Parteiglicder bezeichnet ist, dergestalt, daß das Central-<lb/> comitll sich in der Lage befindet, in Zeit von zwei Stunden 60,000 Mann aus den<lb/> angewiesenen Sammelplätzen zu vereinen. Dazu kommt, daß die Clubs seit Aufhebung<lb/> des Belagerungszustandes sich thätiger zeigen als je; selten vergeht ein Tag, der we¬<lb/> niger als ein Dutzend ihrer Versammlungen erblickt; diese sind zwar der polizeilichen<lb/> Aufsicht unterworfen, doch beschränkt das nur wenig ihre Redefreiheit. Jetzt aber haben<lb/> sie eine neue Tactik beobachtet, die Aufmerksamkeit der Behörden zu ermüden. Da<lb/> Zweck und Zeit des Beginns der Polizei angezeigt werden müssen, so dehnen sie ihre<lb/> Vortrage durch Unterbrechung von Gesang, Trinkgelagen, oft auch von Tanz so weit<lb/> hinaus, bis die Beamten, in der Meinung, die Vorträge seien beendet, sich entfernen,<lb/> wo solche dann von Neuem und um so heftiger beginnen. Natürlich konnte solche<lb/> Täuschung bei dem herrschenden Dcnnnziativnswesen nicht lange dauern, und so ver¬<lb/> suchten sie ihr Ermüdungssystem durch verspätetes Beginnen ihrer Sitzung wirksam<lb/> zu machen, was vor Kurzem zur Folge hatte, daß der dienstthuende Beamte eine solche,<lb/> welche eine halbe Stunde uach der bestimmten Zeit noch nicht begonnen hatte, sür<lb/> diesen Abend als unstatthaft erklärte. Der Lärm war groß, aber der Beschluß blieb<lb/> in Kraft.</p><lb/> <p xml:id="ID_833"> Dieser Fraktion gegenüber entfaltet die reactionäre Partei mit mindern: Geräusch<lb/> eine uicht geringere Thatkraft. Ihre Hauptorgane wirken im „Treubund," in der<lb/> „Neuen preußischen Zeitung" und in der ersten Kammer. Es fehlt ihnen weder an<lb/> Macht noch an Talent; nur selten sogar an der nöthigen Besonnenheit. Eng eingekeilt<lb/> zwischen diesen beiden extremen Parteien, steht nnn, mit wirklich bewundernswerthem<lb/> Muthe und mit, bis jetzt, uuerschütterier Kraft, das Ministerium, dem die Nicsenauf-<lb/> gabe ward, aus diesem Kampf sich leidenschaftlich befehdender Parteien die zarte con-<lb/> stitutionelle Frucht zu retten, ohne sie, weder vom Eiscshanche der Reaction berühren<lb/> zu lassen, noch vom Wurmstich der Ultrademvkratie. Seine Stütze ist die große Ma¬<lb/> jorität der Kammern, eine kräftige Stütze, aber auch fast seine einzige. Von öffentlichen<lb/> Organen begünstigen es nur wenige, und von diesen wenigen nicht alle principiell, nicht<lb/> alle mit ganz unzweideutiger Natur.</p><lb/> <p xml:id="ID_834" next="#ID_835"> Und die öffentliche Meinung, die sich im Volke deutlich und vernehmlich aussprechen<lb/> sollte, deren mündliches Organ die Bourgeoisie in ihrem täglichen geselligen- und Ge¬<lb/> schäftsverkehr zu bilden und festzustellen berufen ist, — die öffentliche Meinung? —<lb/> ist gänzlich verstummt. Die Bourgeoisie, nud mit ihr, das ^roh des Volkes, küm¬<lb/> mert sich auch uicht im entferntesten mehr um Politik. Will man gegen die beredte¬<lb/> sten Schwätzer des vorigen Jahres der Tagesereignisse auch nur flüchtig erwähnen,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0240]
Der Berliner ist vor Allem Mvdemensch; der Mode huldigt er, sei es im Schnitt
des Fracks oder der Verfassung; so lauge die Mode hält, hält auch er unverbrüchlich
an ihr fest. Jetzt ist die Passivität an der Tagesmode, und er bleibt ihr treu im
„Widerstand" wie in der Förderung. Aber sein jetziges Verhalten geht nicht hervor
aus einem wirklichen Umschwung der Meinung, einer festen Ueberzeugung; es ist nicht
Furcht, bloße Herabstimmung oder Besonnenheit, — es ist der bravste und vollstän¬
digste Jndifferentismus.
Wir reden hier von der eigentlichen, wirklichen Volksmacht Berlins: dem Bürger-
thum. Die Anhänger des alten Systems sind rührig, und die Demokratie war nie
thätiger, nie vortrefflicher vrganistrt als grade jetzt. Ganz Berlin ist von ihr in
Sectionen getheilt; ein Centralcomw- leitet das Ganze; die Scctiouscomit^s haben ihre
Vertrauensmänner, diese ihre Agenten, denen in jedem Bezirke eine Anzahl von Stra¬
ßen mit den Wohnungen der Parteiglicder bezeichnet ist, dergestalt, daß das Central-
comitll sich in der Lage befindet, in Zeit von zwei Stunden 60,000 Mann aus den
angewiesenen Sammelplätzen zu vereinen. Dazu kommt, daß die Clubs seit Aufhebung
des Belagerungszustandes sich thätiger zeigen als je; selten vergeht ein Tag, der we¬
niger als ein Dutzend ihrer Versammlungen erblickt; diese sind zwar der polizeilichen
Aufsicht unterworfen, doch beschränkt das nur wenig ihre Redefreiheit. Jetzt aber haben
sie eine neue Tactik beobachtet, die Aufmerksamkeit der Behörden zu ermüden. Da
Zweck und Zeit des Beginns der Polizei angezeigt werden müssen, so dehnen sie ihre
Vortrage durch Unterbrechung von Gesang, Trinkgelagen, oft auch von Tanz so weit
hinaus, bis die Beamten, in der Meinung, die Vorträge seien beendet, sich entfernen,
wo solche dann von Neuem und um so heftiger beginnen. Natürlich konnte solche
Täuschung bei dem herrschenden Dcnnnziativnswesen nicht lange dauern, und so ver¬
suchten sie ihr Ermüdungssystem durch verspätetes Beginnen ihrer Sitzung wirksam
zu machen, was vor Kurzem zur Folge hatte, daß der dienstthuende Beamte eine solche,
welche eine halbe Stunde uach der bestimmten Zeit noch nicht begonnen hatte, sür
diesen Abend als unstatthaft erklärte. Der Lärm war groß, aber der Beschluß blieb
in Kraft.
Dieser Fraktion gegenüber entfaltet die reactionäre Partei mit mindern: Geräusch
eine uicht geringere Thatkraft. Ihre Hauptorgane wirken im „Treubund," in der
„Neuen preußischen Zeitung" und in der ersten Kammer. Es fehlt ihnen weder an
Macht noch an Talent; nur selten sogar an der nöthigen Besonnenheit. Eng eingekeilt
zwischen diesen beiden extremen Parteien, steht nnn, mit wirklich bewundernswerthem
Muthe und mit, bis jetzt, uuerschütterier Kraft, das Ministerium, dem die Nicsenauf-
gabe ward, aus diesem Kampf sich leidenschaftlich befehdender Parteien die zarte con-
stitutionelle Frucht zu retten, ohne sie, weder vom Eiscshanche der Reaction berühren
zu lassen, noch vom Wurmstich der Ultrademvkratie. Seine Stütze ist die große Ma¬
jorität der Kammern, eine kräftige Stütze, aber auch fast seine einzige. Von öffentlichen
Organen begünstigen es nur wenige, und von diesen wenigen nicht alle principiell, nicht
alle mit ganz unzweideutiger Natur.
Und die öffentliche Meinung, die sich im Volke deutlich und vernehmlich aussprechen
sollte, deren mündliches Organ die Bourgeoisie in ihrem täglichen geselligen- und Ge¬
schäftsverkehr zu bilden und festzustellen berufen ist, — die öffentliche Meinung? —
ist gänzlich verstummt. Die Bourgeoisie, nud mit ihr, das ^roh des Volkes, küm¬
mert sich auch uicht im entferntesten mehr um Politik. Will man gegen die beredte¬
sten Schwätzer des vorigen Jahres der Tagesereignisse auch nur flüchtig erwähnen,
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