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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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des Glaubens aber ist immer, daß er die Lücken des Wissens ausfüllt, er
fängt da an, wo das Wissen aushört, er ist die Kehrseite, der Neumond, einer
klaren sichern Erkenntniß. Weil unser Geist die Nothwendigkeit des ganzen vollen
Wissens als Bedürfniß in sich fühlt und doch nur einen kleinen Theil desselben
besitzen kann: so füllt er jedesmal die Lücke mit emsiger Sorgfalt, durch eine
Gemüthsanstrengung aus. Denn dieser tief in der Natur unserer Seelenthätigkeit
begründete Drang uach Vollständigkeit unseres Gedankeninhaltes beherrscht jeden
Sterblichen. Nur der Forscher der neueren Zeit, welcher an der Hand der exak¬
ten Naturwissenschaft aufgewachsen ist, ist vielleicht im Stande, diesen Trieb ganz
zu beherrschen und Alles, was er nicht bestimmt weiß, als unentschieden da¬
hinzustellen, das heißt, garnichtSzuglauben. Freilich straucheln auch von diesen
Privilegium gar Manche bei solchem Versuche. Je unwissender aber und je
ungebildeter der Mensch ist, desto größer wird in ihm das Gebiet der gläubigen
Geistesstimmung, desto bunter und widersinniger deren Inhalt. Dies lehrt die
Erfahrung alltäglich und allenthalben.

Wissen und Glauben suchen, wie alle Vorstellungen, endlich ihren Weg zum
Handeln, indem sie in Willensentschlüsse übergehen. Aber hier zeigt sich
ein bedeutender Unterschied zwischen beiden.

Das Wissen nimmt seiner Natur nach den Verstand in Anspruch. Das
dadurch bedingte Wollen ist daher ein verständiges, d. l)., ein auf Erkenntniß der
Sache begründeter Antrieb zum Handeln. Daher wird das echte Wissen sogar da,
wo es einen sehr mächtigen Antrieb zum Handeln gibt, doch auch hierbei stets
die Natur der Sache und die in ihr liegenden Hindernisse oder Bedingungen eines
erfolgreichen Handelns mit in Anschlag bringen. Die Handlungsweise eines Wohl¬
unterrichteten , eines wissenschaftlich Bekehrten, wird in der Regel frei von Ein¬
seitigkeit oder Leidenschaft, verhältnißmäßig umsichtig, besonnen und rücksichtsvoll
sein. -- (Ich leugne nicht, daß es auch einseitige Fanatiker in manchen Wissen¬
schaftszweigen geben kann; z. B. für die Vorzüge des lateinischen Grammatikal-
unterrichtes auf den Gelehrtenschulen habe ich viel fanatische Ausbrüche erlebt.
Aber gerade diese Fälle bestätigen unsere Sätze; denn es gibt eine unechte und
bornirte Gelehrsamkeit, welche eben so große Lücken, wie der Mangel an Bildung,
im menschlichen Geiste hinterläßt.)

Der Glaube hingegen wurzelt im Gemüth. Wenn er zum Handeln über¬
gehen soll, so muß er das Gemüth bewegen. Der Ununterrichtete, Wissenslose
muß das, was seinen Ueberzeugungen an Klarheit und Sicherheit der Begrün¬
dung abgeht, durch erhöhten Schwung des Gemüthes ersetzen, wenn es ihn zum
wirklichen Wollen und Handeln sichren soll. Sobald er daher seine Ueberzeugun¬
gen überhaupt lieb gewonnen hat, sobald er sie wirklich in's Leben überzuführen
wünscht, und besonders, sobald er seine Ueberzeugungen durch entgegengesetzte
bedroht und sich bei deren Durchführung behindert findet: ersetzt er Das, was ihm


des Glaubens aber ist immer, daß er die Lücken des Wissens ausfüllt, er
fängt da an, wo das Wissen aushört, er ist die Kehrseite, der Neumond, einer
klaren sichern Erkenntniß. Weil unser Geist die Nothwendigkeit des ganzen vollen
Wissens als Bedürfniß in sich fühlt und doch nur einen kleinen Theil desselben
besitzen kann: so füllt er jedesmal die Lücke mit emsiger Sorgfalt, durch eine
Gemüthsanstrengung aus. Denn dieser tief in der Natur unserer Seelenthätigkeit
begründete Drang uach Vollständigkeit unseres Gedankeninhaltes beherrscht jeden
Sterblichen. Nur der Forscher der neueren Zeit, welcher an der Hand der exak¬
ten Naturwissenschaft aufgewachsen ist, ist vielleicht im Stande, diesen Trieb ganz
zu beherrschen und Alles, was er nicht bestimmt weiß, als unentschieden da¬
hinzustellen, das heißt, garnichtSzuglauben. Freilich straucheln auch von diesen
Privilegium gar Manche bei solchem Versuche. Je unwissender aber und je
ungebildeter der Mensch ist, desto größer wird in ihm das Gebiet der gläubigen
Geistesstimmung, desto bunter und widersinniger deren Inhalt. Dies lehrt die
Erfahrung alltäglich und allenthalben.

Wissen und Glauben suchen, wie alle Vorstellungen, endlich ihren Weg zum
Handeln, indem sie in Willensentschlüsse übergehen. Aber hier zeigt sich
ein bedeutender Unterschied zwischen beiden.

Das Wissen nimmt seiner Natur nach den Verstand in Anspruch. Das
dadurch bedingte Wollen ist daher ein verständiges, d. l)., ein auf Erkenntniß der
Sache begründeter Antrieb zum Handeln. Daher wird das echte Wissen sogar da,
wo es einen sehr mächtigen Antrieb zum Handeln gibt, doch auch hierbei stets
die Natur der Sache und die in ihr liegenden Hindernisse oder Bedingungen eines
erfolgreichen Handelns mit in Anschlag bringen. Die Handlungsweise eines Wohl¬
unterrichteten , eines wissenschaftlich Bekehrten, wird in der Regel frei von Ein¬
seitigkeit oder Leidenschaft, verhältnißmäßig umsichtig, besonnen und rücksichtsvoll
sein. — (Ich leugne nicht, daß es auch einseitige Fanatiker in manchen Wissen¬
schaftszweigen geben kann; z. B. für die Vorzüge des lateinischen Grammatikal-
unterrichtes auf den Gelehrtenschulen habe ich viel fanatische Ausbrüche erlebt.
Aber gerade diese Fälle bestätigen unsere Sätze; denn es gibt eine unechte und
bornirte Gelehrsamkeit, welche eben so große Lücken, wie der Mangel an Bildung,
im menschlichen Geiste hinterläßt.)

Der Glaube hingegen wurzelt im Gemüth. Wenn er zum Handeln über¬
gehen soll, so muß er das Gemüth bewegen. Der Ununterrichtete, Wissenslose
muß das, was seinen Ueberzeugungen an Klarheit und Sicherheit der Begrün¬
dung abgeht, durch erhöhten Schwung des Gemüthes ersetzen, wenn es ihn zum
wirklichen Wollen und Handeln sichren soll. Sobald er daher seine Ueberzeugun¬
gen überhaupt lieb gewonnen hat, sobald er sie wirklich in's Leben überzuführen
wünscht, und besonders, sobald er seine Ueberzeugungen durch entgegengesetzte
bedroht und sich bei deren Durchführung behindert findet: ersetzt er Das, was ihm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/174>, abgerufen am 15.01.2025.