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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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bildete Russe eine zweite Bewegung in den Ostseeprovinzen, freilich keine politische
und antirussische, da sie vielmehr mir die von der russischen Regierung selbst an¬
gestrebte Verbesserung der bäuerlichen Verhältnisse im Gegensatz zu dem Druck des
kurischen und livischen Adels zum Zwecke hätte; aber dnrch ihren revolutionären
Charakter würde sie das loyale Nusseuthum eben so beleidigen, wie dnrch einen
antinationalcn. Uebrigens ist es keine Unmöglichkeit, vielmehr schon dnrch die Er¬
fahrung bewiesen, daß in Kurland und Litthauen auf den Grund alter Erinnerungen
und durch den Gegensatz der kleinen Nationalitäten gegen die allverschlingende rus¬
sische eine Annäherung an Polen herbeigeführt werden kann. Wenn dagegen zu
irgend einer Zeit geglaubt ist, daß das Deutschthum in Riga und den andern
Städten der baltischen Provinzen, so wie in dem größeren Theile des dortigen
Adels durch die Erhebung Deutschlands irgend wie angeregt sei, so ist das der
völligste Irrthum, indem jene Leute viel zu viel Besitzende sind, um nicht die
Knechtschaft des Hundes weit über die Freiheit des Wolfes zu stellen.

Es ist daher zunächst uur die ungarische, vielleicht ungarisch-polnische Be¬
wegung, welche in das innere Leben Rußlands eingreifen zu können drohte. Aber
dieser Krieg, so lange er die ungarischen Grenzen nicht überschreitet, erfreut sich
doch keiner besondern Popularität in Rußland, namentlich da er dem Anschein nach
der russischen Nationaleitelkeit wenig Nahrungsstoff bieten wird. Die Gerüchte
von den ersten Verlusten waren ungewöhnlich schnell verbreitet, und als selbst die
Petersburger Zeitung eine sehr beschönigende Nachricht von den Vorfällen in Sie¬
benbürgen brachte, als offiziell schon so viel zugegeben wurde, wußte man in
Moskau, wo man längst gelernt hat, die Siegcsbulletins der kaukasischen Armeen
mit den mündlichen Berichten derer, die dort gedient haben, zu vergleichen, so¬
gleich, daß der neue Krieg kein Kinderspiel, kein Türkenkrieg sein würde.

Die ungeheuer starke Aushebung hat das Volk nicht befremdet, obgleich sie
stärker war, als je eine seit 1812. Merken wir aber darauf, daß die Sammel¬
plätze und Standquartiere der neuen Truppen durchaus längs der preußischen
Grenze gewählt sind, so haben wir wohl Grund dem einigen Glauben zu schenken,
was die betheiligten Offiziere unbedingt aussprechen, daß nämlich ein Theil des
Heeres zu einem Handstreich gegen Preußen bereit und bestimmt sei.

Daß nach der Theorie der alten Diplvmatenschule von der Abrundung der
Reiche der Besitz der Provinz Preußen dem zeitigen Herrscher über Rußland und
Polen eine Nothwendigkeit sei, lehrt ein Blick ans die Karte; daß die russische
Negierung eine Zeit der Wirren, der Schwäche und Ueberhebung in ihren Nach¬
barstaaten nicht vorübergehn lassen wird, ohne dabei für sich einen materiellen
Gewinn zu erlangen, lehrt ein Blick in die Geschäfte. Und da in Rußland nichts
der Art laut gesprochen werden darf, am wenigsten in der Armee, wenn nicht
von obenher gern gesehen wird, daß man so denke und rede, so hat ein solches
Gerücht einen halboffiziellen Werth.


bildete Russe eine zweite Bewegung in den Ostseeprovinzen, freilich keine politische
und antirussische, da sie vielmehr mir die von der russischen Regierung selbst an¬
gestrebte Verbesserung der bäuerlichen Verhältnisse im Gegensatz zu dem Druck des
kurischen und livischen Adels zum Zwecke hätte; aber dnrch ihren revolutionären
Charakter würde sie das loyale Nusseuthum eben so beleidigen, wie dnrch einen
antinationalcn. Uebrigens ist es keine Unmöglichkeit, vielmehr schon dnrch die Er¬
fahrung bewiesen, daß in Kurland und Litthauen auf den Grund alter Erinnerungen
und durch den Gegensatz der kleinen Nationalitäten gegen die allverschlingende rus¬
sische eine Annäherung an Polen herbeigeführt werden kann. Wenn dagegen zu
irgend einer Zeit geglaubt ist, daß das Deutschthum in Riga und den andern
Städten der baltischen Provinzen, so wie in dem größeren Theile des dortigen
Adels durch die Erhebung Deutschlands irgend wie angeregt sei, so ist das der
völligste Irrthum, indem jene Leute viel zu viel Besitzende sind, um nicht die
Knechtschaft des Hundes weit über die Freiheit des Wolfes zu stellen.

Es ist daher zunächst uur die ungarische, vielleicht ungarisch-polnische Be¬
wegung, welche in das innere Leben Rußlands eingreifen zu können drohte. Aber
dieser Krieg, so lange er die ungarischen Grenzen nicht überschreitet, erfreut sich
doch keiner besondern Popularität in Rußland, namentlich da er dem Anschein nach
der russischen Nationaleitelkeit wenig Nahrungsstoff bieten wird. Die Gerüchte
von den ersten Verlusten waren ungewöhnlich schnell verbreitet, und als selbst die
Petersburger Zeitung eine sehr beschönigende Nachricht von den Vorfällen in Sie¬
benbürgen brachte, als offiziell schon so viel zugegeben wurde, wußte man in
Moskau, wo man längst gelernt hat, die Siegcsbulletins der kaukasischen Armeen
mit den mündlichen Berichten derer, die dort gedient haben, zu vergleichen, so¬
gleich, daß der neue Krieg kein Kinderspiel, kein Türkenkrieg sein würde.

Die ungeheuer starke Aushebung hat das Volk nicht befremdet, obgleich sie
stärker war, als je eine seit 1812. Merken wir aber darauf, daß die Sammel¬
plätze und Standquartiere der neuen Truppen durchaus längs der preußischen
Grenze gewählt sind, so haben wir wohl Grund dem einigen Glauben zu schenken,
was die betheiligten Offiziere unbedingt aussprechen, daß nämlich ein Theil des
Heeres zu einem Handstreich gegen Preußen bereit und bestimmt sei.

Daß nach der Theorie der alten Diplvmatenschule von der Abrundung der
Reiche der Besitz der Provinz Preußen dem zeitigen Herrscher über Rußland und
Polen eine Nothwendigkeit sei, lehrt ein Blick ans die Karte; daß die russische
Negierung eine Zeit der Wirren, der Schwäche und Ueberhebung in ihren Nach¬
barstaaten nicht vorübergehn lassen wird, ohne dabei für sich einen materiellen
Gewinn zu erlangen, lehrt ein Blick in die Geschäfte. Und da in Rußland nichts
der Art laut gesprochen werden darf, am wenigsten in der Armee, wenn nicht
von obenher gern gesehen wird, daß man so denke und rede, so hat ein solches
Gerücht einen halboffiziellen Werth.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/52>, abgerufen am 05.02.2025.