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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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Herr Wocel hat eine viel markirtere Persönlichkeit, mittelgroß, untersetzt, ein
Antlitz, das in Farbe und Zügen mongolischer Abstammung verdächtig wird, star¬
ren Schnurr- und Backenbart -- auch eine MärzerrungensHaft! -- Er bildet
einen offenbaren Gegensatz zu Tönet, dem stets verständigen und stets langweili¬
gen, er hat einen Tick auf das Phantastische, wenn es auch nicht gerade erhaben
ist, er schwärmt gern in großen Gefühlen, wenn sie ihm auch nicht immer gut
stehe". Damals in den schönen Tagen des Slaveukongresses ließ der gute Herr
sich auch fortreißen, ein klein wenig den Renommisten zu spielen. Er trug einen
ganz fashionablen polnischen Schnurrock, hatte eine Pudelmütze über beide Ohren
gezogen, eine breite Schärpe wie eine Cholerabinde um den Leib gewunden, und
einen mächtigen Sarras umgeschnallt -- jeder Zoll ein Tamerlan! -- Wocel ist
Custus am Nationalmuseum zu Prag und Safarik's Nachfolger in der Redaction
des "e"8opis ceskelio an8eum," laut Michels Geschichte der ezechischen Literatur
zu Kuttenberg im Jahre 1803 geboren. Er gehört unter die bekanntesten, leider
aber nicht unter die besten Dichter seines Vaterlandes. Seine eigenen Freunde
haben ihm durch unmäßiges Lob sehr geschadet, namentlich die Partei der Zeit¬
schrift "Ost und West," welche zur nicht geringen Langeweile des Publikums Wo-
cel's vermeintliches Hauptwerk: "Labyrinth Slavy" (das Labyrinth des Ruhm's) zu
einem Drittheil in einer Uebersetzung vom Professor Wcnzig mitgetheilt hat. DaS
Gedicht ist eine verunglückte Nachahmung des Faust, sehr dürr, ohne Geist, ohne
Leben, dafür übervoll von unreifen Reflexionen. Besser schon sind ihm zwei Bände
Balladen, wovon der erste die Thaten der böhmischen Fürsten aus Przmysl's Stamm,
das zweite die Hussiten besingt, gelungen.

Ein dramatischer Versuch Wocel's "die Harfe", ein Trauerspiel, mißlang
gänzlich; glücklicher war er in der Novelle; sein novellistisches Bild: "der
alte Orebite" gehört unter seine besten Leistungen und ist ins Deutsche und Ma¬
gyarische übersetzt. In den letzten Jahren hat er sich auf das archäologische Feld
geworfen und da manches Verdienstliche gethan, obgleich ihm auch hier Tiefe und
der ästhetische Takt fehlt. Seine archäologischen Aufsätze sind in der von ihm ge¬
leiteten Museumszeitschrift zerstreut. Auch schrieb er ein sehr brauchbares Kompen¬
dium: Grundzüge der böhmischen Alterthumskunde.




Verlag von F. L. Herbig. -- Redacteure: Gustav Freytag und Julian Schmidt.
Druck von Friedrich Andrä.

Herr Wocel hat eine viel markirtere Persönlichkeit, mittelgroß, untersetzt, ein
Antlitz, das in Farbe und Zügen mongolischer Abstammung verdächtig wird, star¬
ren Schnurr- und Backenbart — auch eine MärzerrungensHaft! — Er bildet
einen offenbaren Gegensatz zu Tönet, dem stets verständigen und stets langweili¬
gen, er hat einen Tick auf das Phantastische, wenn es auch nicht gerade erhaben
ist, er schwärmt gern in großen Gefühlen, wenn sie ihm auch nicht immer gut
stehe«. Damals in den schönen Tagen des Slaveukongresses ließ der gute Herr
sich auch fortreißen, ein klein wenig den Renommisten zu spielen. Er trug einen
ganz fashionablen polnischen Schnurrock, hatte eine Pudelmütze über beide Ohren
gezogen, eine breite Schärpe wie eine Cholerabinde um den Leib gewunden, und
einen mächtigen Sarras umgeschnallt — jeder Zoll ein Tamerlan! — Wocel ist
Custus am Nationalmuseum zu Prag und Safarik's Nachfolger in der Redaction
des „e»8opis ceskelio an8eum," laut Michels Geschichte der ezechischen Literatur
zu Kuttenberg im Jahre 1803 geboren. Er gehört unter die bekanntesten, leider
aber nicht unter die besten Dichter seines Vaterlandes. Seine eigenen Freunde
haben ihm durch unmäßiges Lob sehr geschadet, namentlich die Partei der Zeit¬
schrift „Ost und West," welche zur nicht geringen Langeweile des Publikums Wo-
cel's vermeintliches Hauptwerk: „Labyrinth Slavy" (das Labyrinth des Ruhm's) zu
einem Drittheil in einer Uebersetzung vom Professor Wcnzig mitgetheilt hat. DaS
Gedicht ist eine verunglückte Nachahmung des Faust, sehr dürr, ohne Geist, ohne
Leben, dafür übervoll von unreifen Reflexionen. Besser schon sind ihm zwei Bände
Balladen, wovon der erste die Thaten der böhmischen Fürsten aus Przmysl's Stamm,
das zweite die Hussiten besingt, gelungen.

Ein dramatischer Versuch Wocel's „die Harfe", ein Trauerspiel, mißlang
gänzlich; glücklicher war er in der Novelle; sein novellistisches Bild: „der
alte Orebite" gehört unter seine besten Leistungen und ist ins Deutsche und Ma¬
gyarische übersetzt. In den letzten Jahren hat er sich auf das archäologische Feld
geworfen und da manches Verdienstliche gethan, obgleich ihm auch hier Tiefe und
der ästhetische Takt fehlt. Seine archäologischen Aufsätze sind in der von ihm ge¬
leiteten Museumszeitschrift zerstreut. Auch schrieb er ein sehr brauchbares Kompen¬
dium: Grundzüge der böhmischen Alterthumskunde.




Verlag von F. L. Herbig. — Redacteure: Gustav Freytag und Julian Schmidt.
Druck von Friedrich Andrä.
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[0360] Herr Wocel hat eine viel markirtere Persönlichkeit, mittelgroß, untersetzt, ein Antlitz, das in Farbe und Zügen mongolischer Abstammung verdächtig wird, star¬ ren Schnurr- und Backenbart — auch eine MärzerrungensHaft! — Er bildet einen offenbaren Gegensatz zu Tönet, dem stets verständigen und stets langweili¬ gen, er hat einen Tick auf das Phantastische, wenn es auch nicht gerade erhaben ist, er schwärmt gern in großen Gefühlen, wenn sie ihm auch nicht immer gut stehe«. Damals in den schönen Tagen des Slaveukongresses ließ der gute Herr sich auch fortreißen, ein klein wenig den Renommisten zu spielen. Er trug einen ganz fashionablen polnischen Schnurrock, hatte eine Pudelmütze über beide Ohren gezogen, eine breite Schärpe wie eine Cholerabinde um den Leib gewunden, und einen mächtigen Sarras umgeschnallt — jeder Zoll ein Tamerlan! — Wocel ist Custus am Nationalmuseum zu Prag und Safarik's Nachfolger in der Redaction des „e»8opis ceskelio an8eum," laut Michels Geschichte der ezechischen Literatur zu Kuttenberg im Jahre 1803 geboren. Er gehört unter die bekanntesten, leider aber nicht unter die besten Dichter seines Vaterlandes. Seine eigenen Freunde haben ihm durch unmäßiges Lob sehr geschadet, namentlich die Partei der Zeit¬ schrift „Ost und West," welche zur nicht geringen Langeweile des Publikums Wo- cel's vermeintliches Hauptwerk: „Labyrinth Slavy" (das Labyrinth des Ruhm's) zu einem Drittheil in einer Uebersetzung vom Professor Wcnzig mitgetheilt hat. DaS Gedicht ist eine verunglückte Nachahmung des Faust, sehr dürr, ohne Geist, ohne Leben, dafür übervoll von unreifen Reflexionen. Besser schon sind ihm zwei Bände Balladen, wovon der erste die Thaten der böhmischen Fürsten aus Przmysl's Stamm, das zweite die Hussiten besingt, gelungen. Ein dramatischer Versuch Wocel's „die Harfe", ein Trauerspiel, mißlang gänzlich; glücklicher war er in der Novelle; sein novellistisches Bild: „der alte Orebite" gehört unter seine besten Leistungen und ist ins Deutsche und Ma¬ gyarische übersetzt. In den letzten Jahren hat er sich auf das archäologische Feld geworfen und da manches Verdienstliche gethan, obgleich ihm auch hier Tiefe und der ästhetische Takt fehlt. Seine archäologischen Aufsätze sind in der von ihm ge¬ leiteten Museumszeitschrift zerstreut. Auch schrieb er ein sehr brauchbares Kompen¬ dium: Grundzüge der böhmischen Alterthumskunde. Verlag von F. L. Herbig. — Redacteure: Gustav Freytag und Julian Schmidt. Druck von Friedrich Andrä.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/360>, abgerufen am 05.02.2025.