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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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prosaischen zu trennen. Dadurch verliert man nicht nur gerade in den bedeutend¬
sten Perioden allen Faden der Bewegung, es wird auch das, was übrig bleibt,
in ein ganz falsches Licht gestellt. So sieht z. B. das Zeitalter der Reformation
zu wunderlich aus, wenn Luther nur als Dichter von Kirchenlieder" sich geltend
macht, wenn auf seine sonstige Bedeutung für die Literatur, die doch weit größer ist,
als die von Goethe, als auf ein außerhalb der eigentlichen Darstellung Liegendes
nur hingewiesen wird. Vollends das neunzehnte Jahrhundert muß wie ein wüster
Irrgarten der Mystik erscheinen, wenn der Faden zu diesem Labyrinth, das Ner¬
vengeflecht der neuen Literatur, die philosophische Entwicklung von Kant, Fichte,
Jacobi, Schelling, Schleiermacher, Hegel, Strauß, Feuerbach kaum erwähnt wird.
So verwandelt sich das Bild unsers geistigen Lebens in eine Carriccttur, und
z. B. die ganze romantische Schule erscheint als eine willkürliche Verkehrtheit,
während sie, in den richtigen Zusammenhang mit jener dialektischen Bewegung ge¬
setzt, ihre relative Berechtigung sehr wohl behauptet.

Endlich fehlt auch der künstlerische" Form diejenige Vollendung, die das
Kennzeichen eines classischen Geschichtswerks ist. Schon die Aufgabe, die nur eine
einzelne Seite unsers geistigen Lebens umfaßt, läßt eine ruhige, gleichmäßig fort¬
schreitende Erzählung nicht zu; wir sehen fortwährend die Werkstätte des Schrift¬
stellers in seinem unruhigen Schaffen und Treibe", er nimmt jede einzelne Er¬
scheinung vor, sucht den Zusammenhang mit einer andern, frühern oder spätern,
stellt sie mit einer dritten, die aus einer ganz ander" Periode her auf seinem
Secirtisch liegt, in Parallele, rechtet mit ihr, entschuldigt sie u. s. w. Es ist
das freilich zum Theil Manier, man wird Schlosser's Schule nicht verkennen, aber
auch nur zum Theil, denn die Natur der Ausgabe bedingt diese subjective Form.
Es liegt aber darin, daß eine spätere Literaturgeschichte in künstlerischer Vollen¬
dung das Werk vou Gervinus überholen muß.

Dennoch wird es, so lange unsere Literatur besteht, eine wesentliche Stelle
in derselbe" behaupten. Es ist mehr als ein Kunstwerk, es ist eine That; ein
nothwendiger und bedeutender Schritt zur Befreiung unsers Geistes.

Die Hauptkraukheit unseres Zeitalters war die Unsicherheit im Urtheil, die
sich theils in willkürlichen Paradoxien, in Einfällen, welche zum Theil zu fixen
Ideen verhärteten, kundgab, theils in einem hohlen, trostlosen Jndifferentismus.
Diese Geschmacksverwirrung hing mit der sittlichen Unklarheit zusammen; unser
Leben war ohne Gesetz, wie unser Sinn. Ju eitler Sclbstbeschaulichkeit wechselten
wir mit einer souveränen Ironie gegen alles Große und Gute und einem bequemen
Gcltenlassen alles einmal Existirenden. Es war eine Art Aberglauben geworden,
daß nur ein äußerliches großes Ereigniß uns aus dieser faule" Lethargie wecken,
uns elektrisire", uns ein neues Leben einhauchen könne. Aber die Gunst der Götter
hilft der Trägheit nichts. Ein Volk, welches nicht in eigner Thätigkeit seine


prosaischen zu trennen. Dadurch verliert man nicht nur gerade in den bedeutend¬
sten Perioden allen Faden der Bewegung, es wird auch das, was übrig bleibt,
in ein ganz falsches Licht gestellt. So sieht z. B. das Zeitalter der Reformation
zu wunderlich aus, wenn Luther nur als Dichter von Kirchenlieder» sich geltend
macht, wenn auf seine sonstige Bedeutung für die Literatur, die doch weit größer ist,
als die von Goethe, als auf ein außerhalb der eigentlichen Darstellung Liegendes
nur hingewiesen wird. Vollends das neunzehnte Jahrhundert muß wie ein wüster
Irrgarten der Mystik erscheinen, wenn der Faden zu diesem Labyrinth, das Ner¬
vengeflecht der neuen Literatur, die philosophische Entwicklung von Kant, Fichte,
Jacobi, Schelling, Schleiermacher, Hegel, Strauß, Feuerbach kaum erwähnt wird.
So verwandelt sich das Bild unsers geistigen Lebens in eine Carriccttur, und
z. B. die ganze romantische Schule erscheint als eine willkürliche Verkehrtheit,
während sie, in den richtigen Zusammenhang mit jener dialektischen Bewegung ge¬
setzt, ihre relative Berechtigung sehr wohl behauptet.

Endlich fehlt auch der künstlerische« Form diejenige Vollendung, die das
Kennzeichen eines classischen Geschichtswerks ist. Schon die Aufgabe, die nur eine
einzelne Seite unsers geistigen Lebens umfaßt, läßt eine ruhige, gleichmäßig fort¬
schreitende Erzählung nicht zu; wir sehen fortwährend die Werkstätte des Schrift¬
stellers in seinem unruhigen Schaffen und Treibe», er nimmt jede einzelne Er¬
scheinung vor, sucht den Zusammenhang mit einer andern, frühern oder spätern,
stellt sie mit einer dritten, die aus einer ganz ander» Periode her auf seinem
Secirtisch liegt, in Parallele, rechtet mit ihr, entschuldigt sie u. s. w. Es ist
das freilich zum Theil Manier, man wird Schlosser's Schule nicht verkennen, aber
auch nur zum Theil, denn die Natur der Ausgabe bedingt diese subjective Form.
Es liegt aber darin, daß eine spätere Literaturgeschichte in künstlerischer Vollen¬
dung das Werk vou Gervinus überholen muß.

Dennoch wird es, so lange unsere Literatur besteht, eine wesentliche Stelle
in derselbe» behaupten. Es ist mehr als ein Kunstwerk, es ist eine That; ein
nothwendiger und bedeutender Schritt zur Befreiung unsers Geistes.

Die Hauptkraukheit unseres Zeitalters war die Unsicherheit im Urtheil, die
sich theils in willkürlichen Paradoxien, in Einfällen, welche zum Theil zu fixen
Ideen verhärteten, kundgab, theils in einem hohlen, trostlosen Jndifferentismus.
Diese Geschmacksverwirrung hing mit der sittlichen Unklarheit zusammen; unser
Leben war ohne Gesetz, wie unser Sinn. Ju eitler Sclbstbeschaulichkeit wechselten
wir mit einer souveränen Ironie gegen alles Große und Gute und einem bequemen
Gcltenlassen alles einmal Existirenden. Es war eine Art Aberglauben geworden,
daß nur ein äußerliches großes Ereigniß uns aus dieser faule» Lethargie wecken,
uns elektrisire», uns ein neues Leben einhauchen könne. Aber die Gunst der Götter
hilft der Trägheit nichts. Ein Volk, welches nicht in eigner Thätigkeit seine


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[0246] prosaischen zu trennen. Dadurch verliert man nicht nur gerade in den bedeutend¬ sten Perioden allen Faden der Bewegung, es wird auch das, was übrig bleibt, in ein ganz falsches Licht gestellt. So sieht z. B. das Zeitalter der Reformation zu wunderlich aus, wenn Luther nur als Dichter von Kirchenlieder» sich geltend macht, wenn auf seine sonstige Bedeutung für die Literatur, die doch weit größer ist, als die von Goethe, als auf ein außerhalb der eigentlichen Darstellung Liegendes nur hingewiesen wird. Vollends das neunzehnte Jahrhundert muß wie ein wüster Irrgarten der Mystik erscheinen, wenn der Faden zu diesem Labyrinth, das Ner¬ vengeflecht der neuen Literatur, die philosophische Entwicklung von Kant, Fichte, Jacobi, Schelling, Schleiermacher, Hegel, Strauß, Feuerbach kaum erwähnt wird. So verwandelt sich das Bild unsers geistigen Lebens in eine Carriccttur, und z. B. die ganze romantische Schule erscheint als eine willkürliche Verkehrtheit, während sie, in den richtigen Zusammenhang mit jener dialektischen Bewegung ge¬ setzt, ihre relative Berechtigung sehr wohl behauptet. Endlich fehlt auch der künstlerische« Form diejenige Vollendung, die das Kennzeichen eines classischen Geschichtswerks ist. Schon die Aufgabe, die nur eine einzelne Seite unsers geistigen Lebens umfaßt, läßt eine ruhige, gleichmäßig fort¬ schreitende Erzählung nicht zu; wir sehen fortwährend die Werkstätte des Schrift¬ stellers in seinem unruhigen Schaffen und Treibe», er nimmt jede einzelne Er¬ scheinung vor, sucht den Zusammenhang mit einer andern, frühern oder spätern, stellt sie mit einer dritten, die aus einer ganz ander» Periode her auf seinem Secirtisch liegt, in Parallele, rechtet mit ihr, entschuldigt sie u. s. w. Es ist das freilich zum Theil Manier, man wird Schlosser's Schule nicht verkennen, aber auch nur zum Theil, denn die Natur der Ausgabe bedingt diese subjective Form. Es liegt aber darin, daß eine spätere Literaturgeschichte in künstlerischer Vollen¬ dung das Werk vou Gervinus überholen muß. Dennoch wird es, so lange unsere Literatur besteht, eine wesentliche Stelle in derselbe» behaupten. Es ist mehr als ein Kunstwerk, es ist eine That; ein nothwendiger und bedeutender Schritt zur Befreiung unsers Geistes. Die Hauptkraukheit unseres Zeitalters war die Unsicherheit im Urtheil, die sich theils in willkürlichen Paradoxien, in Einfällen, welche zum Theil zu fixen Ideen verhärteten, kundgab, theils in einem hohlen, trostlosen Jndifferentismus. Diese Geschmacksverwirrung hing mit der sittlichen Unklarheit zusammen; unser Leben war ohne Gesetz, wie unser Sinn. Ju eitler Sclbstbeschaulichkeit wechselten wir mit einer souveränen Ironie gegen alles Große und Gute und einem bequemen Gcltenlassen alles einmal Existirenden. Es war eine Art Aberglauben geworden, daß nur ein äußerliches großes Ereigniß uns aus dieser faule» Lethargie wecken, uns elektrisire», uns ein neues Leben einhauchen könne. Aber die Gunst der Götter hilft der Trägheit nichts. Ein Volk, welches nicht in eigner Thätigkeit seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/246>, abgerufen am 05.02.2025.