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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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die Menschheit durch deren Ueberwindung endlich das goldne Zeitalter erreichen
solle, wo Tugend und Glückseligkeit herrschen -- im Gegentheil soll die Idee sich
überall verwirklichen, wenn auch in bestimmten, und daher nur bedingt vollkommenen
Formen; noch so, wie es unsere modernen, verschrobenen Atheisten sich auslegen,
als ob der Unterschied von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Vernunft und
Unvernunft, überhaupt nur in der Einbildung zu suchen wäre. Das Gute und
Rechte erscheint der Philosophie nicht als festes, unwandelbares, geschriebenes
Gesetz, sondern als Entwickelung, wie alles Lebendige, das nicht einmal eine
classische Gestalt annimmt, und dann nicht mehr ist, was es ist, sondern in jeder
Metamorphose bei sich selbst bleibt, und das Weltgericht ist ihr nicht eine einfache
Correctur fehlerhafter Exercitien, sondern eS ist ihr mit der Weltgeschichte identisch,
die sich selber aufklärt, indem sie ihre Vergangenheit kritisirt.

Für die neuen Geschichtschreiber ergibt sich die Nothwendigkeit, aus der prag¬
matischen Methode herauszugehn, einfach aus dem großen Umfang der Begeben¬
heiten, die der historische Künstler in seinen Nahmen zu spannen hat. Wer eine
allgemeine Weltgeschichte zu schreiben hat, wird gegen die einzelnen Zeitalter un¬
gerecht und daher unwahr werden, wenn er überall den sittlichen Maßstab seiner
Zeit anlegen wollte; er wird in seinem Urtheil wechseln müssen, und es kommt
nur darauf an, ob er es mit Bewußtsein, oder iustiuctiuäßig thut.

Für die Griechen war ein solches unmittelbares Bedürfniß nicht vorhanden.
Einmal war die Zeit und die Localität, die sie umfaßten, immer sehr begrenzt,
> und dann war auch selbst in Beziehung auf den Inhalt ihre Aufgabe eine viel
einfachere. Thucydides z. B. gibt uns nnr die eigentlich politischen Actionen des
Zeitalters, das er darstellt; wenn man nnn erwägt, wie enge dieselben mit dem
ungeheuren sittlichreligiöscn Umschwung zusammenhingen, der in der allgemeinen Bil¬
dung des Volks vor sich ging, so wird man leicht zu der Ueberzeugung kommen,
daß heute so nicht geschrieben werden konnte. Wenn uns nicht Plato, Aristopha-
nes und die Redner erhalten wären, so würden wir aus Thucydides von dieser
innern Krisis nichts erfahren. Das Streben nach Objectivität ging also bei diesem
Geschichtschreiber nur vou dem künstlerischen Bedürfniß ans; bei der begrenzten
Natur seiner Aufgabe hätte ein pragmatisches Etugehn auf die Gegensätze an dem
wesentlichen Inhalt seines Werkes nichts geändert.

Anders ist es bei der modernen Wissenschaft. Je nachdem ein bestimmter
sittlicher Standpunkt, wie es im 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts zu
geschehen pflegte, oder der constitutionelle, wie bei Rotteck, oder der abstract ra¬
dikale, wie bei Bruno Bauer, festgehalten wird, werden auch die Ereignisse eine
vollkommen verschiedene Färbung annehmen, wenn man sich nicht in die künstliche
Naivität der blos novellistischen Darstellung flüchtet. Philosophische Freiheit von
den Bedingungen des endlichen ethischen Bewußtseins ist hente ein wesentliches
Erforderniß eines echten Historikers.


die Menschheit durch deren Ueberwindung endlich das goldne Zeitalter erreichen
solle, wo Tugend und Glückseligkeit herrschen — im Gegentheil soll die Idee sich
überall verwirklichen, wenn auch in bestimmten, und daher nur bedingt vollkommenen
Formen; noch so, wie es unsere modernen, verschrobenen Atheisten sich auslegen,
als ob der Unterschied von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Vernunft und
Unvernunft, überhaupt nur in der Einbildung zu suchen wäre. Das Gute und
Rechte erscheint der Philosophie nicht als festes, unwandelbares, geschriebenes
Gesetz, sondern als Entwickelung, wie alles Lebendige, das nicht einmal eine
classische Gestalt annimmt, und dann nicht mehr ist, was es ist, sondern in jeder
Metamorphose bei sich selbst bleibt, und das Weltgericht ist ihr nicht eine einfache
Correctur fehlerhafter Exercitien, sondern eS ist ihr mit der Weltgeschichte identisch,
die sich selber aufklärt, indem sie ihre Vergangenheit kritisirt.

Für die neuen Geschichtschreiber ergibt sich die Nothwendigkeit, aus der prag¬
matischen Methode herauszugehn, einfach aus dem großen Umfang der Begeben¬
heiten, die der historische Künstler in seinen Nahmen zu spannen hat. Wer eine
allgemeine Weltgeschichte zu schreiben hat, wird gegen die einzelnen Zeitalter un¬
gerecht und daher unwahr werden, wenn er überall den sittlichen Maßstab seiner
Zeit anlegen wollte; er wird in seinem Urtheil wechseln müssen, und es kommt
nur darauf an, ob er es mit Bewußtsein, oder iustiuctiuäßig thut.

Für die Griechen war ein solches unmittelbares Bedürfniß nicht vorhanden.
Einmal war die Zeit und die Localität, die sie umfaßten, immer sehr begrenzt,
> und dann war auch selbst in Beziehung auf den Inhalt ihre Aufgabe eine viel
einfachere. Thucydides z. B. gibt uns nnr die eigentlich politischen Actionen des
Zeitalters, das er darstellt; wenn man nnn erwägt, wie enge dieselben mit dem
ungeheuren sittlichreligiöscn Umschwung zusammenhingen, der in der allgemeinen Bil¬
dung des Volks vor sich ging, so wird man leicht zu der Ueberzeugung kommen,
daß heute so nicht geschrieben werden konnte. Wenn uns nicht Plato, Aristopha-
nes und die Redner erhalten wären, so würden wir aus Thucydides von dieser
innern Krisis nichts erfahren. Das Streben nach Objectivität ging also bei diesem
Geschichtschreiber nur vou dem künstlerischen Bedürfniß ans; bei der begrenzten
Natur seiner Aufgabe hätte ein pragmatisches Etugehn auf die Gegensätze an dem
wesentlichen Inhalt seines Werkes nichts geändert.

Anders ist es bei der modernen Wissenschaft. Je nachdem ein bestimmter
sittlicher Standpunkt, wie es im 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts zu
geschehen pflegte, oder der constitutionelle, wie bei Rotteck, oder der abstract ra¬
dikale, wie bei Bruno Bauer, festgehalten wird, werden auch die Ereignisse eine
vollkommen verschiedene Färbung annehmen, wenn man sich nicht in die künstliche
Naivität der blos novellistischen Darstellung flüchtet. Philosophische Freiheit von
den Bedingungen des endlichen ethischen Bewußtseins ist hente ein wesentliches
Erforderniß eines echten Historikers.


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[0244] die Menschheit durch deren Ueberwindung endlich das goldne Zeitalter erreichen solle, wo Tugend und Glückseligkeit herrschen — im Gegentheil soll die Idee sich überall verwirklichen, wenn auch in bestimmten, und daher nur bedingt vollkommenen Formen; noch so, wie es unsere modernen, verschrobenen Atheisten sich auslegen, als ob der Unterschied von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Vernunft und Unvernunft, überhaupt nur in der Einbildung zu suchen wäre. Das Gute und Rechte erscheint der Philosophie nicht als festes, unwandelbares, geschriebenes Gesetz, sondern als Entwickelung, wie alles Lebendige, das nicht einmal eine classische Gestalt annimmt, und dann nicht mehr ist, was es ist, sondern in jeder Metamorphose bei sich selbst bleibt, und das Weltgericht ist ihr nicht eine einfache Correctur fehlerhafter Exercitien, sondern eS ist ihr mit der Weltgeschichte identisch, die sich selber aufklärt, indem sie ihre Vergangenheit kritisirt. Für die neuen Geschichtschreiber ergibt sich die Nothwendigkeit, aus der prag¬ matischen Methode herauszugehn, einfach aus dem großen Umfang der Begeben¬ heiten, die der historische Künstler in seinen Nahmen zu spannen hat. Wer eine allgemeine Weltgeschichte zu schreiben hat, wird gegen die einzelnen Zeitalter un¬ gerecht und daher unwahr werden, wenn er überall den sittlichen Maßstab seiner Zeit anlegen wollte; er wird in seinem Urtheil wechseln müssen, und es kommt nur darauf an, ob er es mit Bewußtsein, oder iustiuctiuäßig thut. Für die Griechen war ein solches unmittelbares Bedürfniß nicht vorhanden. Einmal war die Zeit und die Localität, die sie umfaßten, immer sehr begrenzt, > und dann war auch selbst in Beziehung auf den Inhalt ihre Aufgabe eine viel einfachere. Thucydides z. B. gibt uns nnr die eigentlich politischen Actionen des Zeitalters, das er darstellt; wenn man nnn erwägt, wie enge dieselben mit dem ungeheuren sittlichreligiöscn Umschwung zusammenhingen, der in der allgemeinen Bil¬ dung des Volks vor sich ging, so wird man leicht zu der Ueberzeugung kommen, daß heute so nicht geschrieben werden konnte. Wenn uns nicht Plato, Aristopha- nes und die Redner erhalten wären, so würden wir aus Thucydides von dieser innern Krisis nichts erfahren. Das Streben nach Objectivität ging also bei diesem Geschichtschreiber nur vou dem künstlerischen Bedürfniß ans; bei der begrenzten Natur seiner Aufgabe hätte ein pragmatisches Etugehn auf die Gegensätze an dem wesentlichen Inhalt seines Werkes nichts geändert. Anders ist es bei der modernen Wissenschaft. Je nachdem ein bestimmter sittlicher Standpunkt, wie es im 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts zu geschehen pflegte, oder der constitutionelle, wie bei Rotteck, oder der abstract ra¬ dikale, wie bei Bruno Bauer, festgehalten wird, werden auch die Ereignisse eine vollkommen verschiedene Färbung annehmen, wenn man sich nicht in die künstliche Naivität der blos novellistischen Darstellung flüchtet. Philosophische Freiheit von den Bedingungen des endlichen ethischen Bewußtseins ist hente ein wesentliches Erforderniß eines echten Historikers.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/244>, abgerufen am 05.02.2025.