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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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sich fühlbar geworden ist. Selbst die ersten Begebenheiten der Perserkriege hatten
noch einen zu naiven, epischen Charakter, als daß man zu dem lebendigen Gefühl
eines innerlichen Kontrastes gekommen wäre. Herodot erzählt viele Einzelheiten
von den verschiedenen Völkern, die wohl einen wesentlichen Unterschied andeuten,
aber diese Einzelheiten nach einem gewissen Parallelismus zu verknüpfen, konnte
ihm nicht einfallen. Erst der peloponnesische Krieg verursachte diesen Bruch im
Bewußtsein. Hellenen und Barbaren, Athener und Pelopvnnesier, Demokraten
und Oligarchen wußten nnn, daß sie nicht mehr gleichgiltig neben einander her¬
gehen konnten, und der geistreiche Zeitgenosse eines Anstophanes und Sokrates
konnte die Reflexion über diesen Gegensatz nicht umgeben.

Thucydides wußte ihn durch seiue künstlerische Natur zu überwältigen. In
den Reden, die er den Gesandten von Athen und Sparta, die er den Demagogen
und Aristokraten in den Mund legt, gibt er sehr deutlich zu erkennen, wie tief
er von dem Conflict der Principien durchdrungen war. Aber obgleich er als
Mitglied einer bestimmten Partei, und noch dazu durch sehr individuelle Schicksale
in diesen Kampf verflochten war, so läßt er doch mit einer wahrhaft grandiosen
Objectivität jedem Standpunkt sein Recht widerfahren. Um nur an ein Beispiel
zu erinnern -- von allen Richtungen war ihm gewiß die wüste Demagogie eines
Kleon am meisten verhaßt, und doch frage ich, ob nicht die Rede, die er ihn bei
der Bestrafung Mytilene's halten läßt, von dem einseitigen Standpunkt aus, den
sie eben bezeichnen soll, ein Meisterstück ist.

So verfährt der Pragmatiker nicht. Er verliert das Princip des allein rich¬
tigen Handelns nie aus den Augen, und steht überall mit seiner höhern Einsicht
den wirklichen Begebenheiten kritisch gegenüber. Nicht daß er sich dem engherzigen
Urtheil einer bestimmten Partei hingebe, denn auch diese wird nie die Reinheit
des Princips vollständig ausdrücken; er wird auch die Handlungsweise, die er
verwirft, motiviren, um so gewissenhafter, je höher seine Bildung ist, und sie
eben dadurch gleichsam entschuldigen, aber er wird überall, in dem vollen Gefühl
der Consequenz seines Princips das Bewußtsein hereinbringen: so hätte unter
den gegebenen Verhältnissen gedacht, geurtheilt, gehandelt werden müssen, und
so unterscheidet sich das, was geschehe" ist, von dem, was hätte geschehen sollen.

Was nnn den philosophischen Standpunkt betrifft, von welchem aus zuerst
Hegel mit großer Energie die p-ragmatische Methode kritisirte, mit der ganzen
Schärfe und Bitterkeit, die ein neu gewonnener Standpunkt dem überwundenen
entgegenträgt, so hat es damit folgende Bewandniß. Die Philosophie betrachtet
die Geschichte der Menschheit, wie die Natur, als Totalität. Sie kann also nicht
bei dem Begriff des Widerspruchs stehn bleiben, des Widerspruchs zwischen dem
"Wirklichen" und dem "Vernünftigen", denn Totalität ist eben Aufhebung des
Widerspruchs. Das ist nun weder so zu versteh", wie es der einseitige Idea¬
lismus auffaßt, daß nach einer Reihe von allerdings nothwendigen Verirrungen,


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sich fühlbar geworden ist. Selbst die ersten Begebenheiten der Perserkriege hatten
noch einen zu naiven, epischen Charakter, als daß man zu dem lebendigen Gefühl
eines innerlichen Kontrastes gekommen wäre. Herodot erzählt viele Einzelheiten
von den verschiedenen Völkern, die wohl einen wesentlichen Unterschied andeuten,
aber diese Einzelheiten nach einem gewissen Parallelismus zu verknüpfen, konnte
ihm nicht einfallen. Erst der peloponnesische Krieg verursachte diesen Bruch im
Bewußtsein. Hellenen und Barbaren, Athener und Pelopvnnesier, Demokraten
und Oligarchen wußten nnn, daß sie nicht mehr gleichgiltig neben einander her¬
gehen konnten, und der geistreiche Zeitgenosse eines Anstophanes und Sokrates
konnte die Reflexion über diesen Gegensatz nicht umgeben.

Thucydides wußte ihn durch seiue künstlerische Natur zu überwältigen. In
den Reden, die er den Gesandten von Athen und Sparta, die er den Demagogen
und Aristokraten in den Mund legt, gibt er sehr deutlich zu erkennen, wie tief
er von dem Conflict der Principien durchdrungen war. Aber obgleich er als
Mitglied einer bestimmten Partei, und noch dazu durch sehr individuelle Schicksale
in diesen Kampf verflochten war, so läßt er doch mit einer wahrhaft grandiosen
Objectivität jedem Standpunkt sein Recht widerfahren. Um nur an ein Beispiel
zu erinnern — von allen Richtungen war ihm gewiß die wüste Demagogie eines
Kleon am meisten verhaßt, und doch frage ich, ob nicht die Rede, die er ihn bei
der Bestrafung Mytilene's halten läßt, von dem einseitigen Standpunkt aus, den
sie eben bezeichnen soll, ein Meisterstück ist.

So verfährt der Pragmatiker nicht. Er verliert das Princip des allein rich¬
tigen Handelns nie aus den Augen, und steht überall mit seiner höhern Einsicht
den wirklichen Begebenheiten kritisch gegenüber. Nicht daß er sich dem engherzigen
Urtheil einer bestimmten Partei hingebe, denn auch diese wird nie die Reinheit
des Princips vollständig ausdrücken; er wird auch die Handlungsweise, die er
verwirft, motiviren, um so gewissenhafter, je höher seine Bildung ist, und sie
eben dadurch gleichsam entschuldigen, aber er wird überall, in dem vollen Gefühl
der Consequenz seines Princips das Bewußtsein hereinbringen: so hätte unter
den gegebenen Verhältnissen gedacht, geurtheilt, gehandelt werden müssen, und
so unterscheidet sich das, was geschehe» ist, von dem, was hätte geschehen sollen.

Was nnn den philosophischen Standpunkt betrifft, von welchem aus zuerst
Hegel mit großer Energie die p-ragmatische Methode kritisirte, mit der ganzen
Schärfe und Bitterkeit, die ein neu gewonnener Standpunkt dem überwundenen
entgegenträgt, so hat es damit folgende Bewandniß. Die Philosophie betrachtet
die Geschichte der Menschheit, wie die Natur, als Totalität. Sie kann also nicht
bei dem Begriff des Widerspruchs stehn bleiben, des Widerspruchs zwischen dem
„Wirklichen" und dem „Vernünftigen", denn Totalität ist eben Aufhebung des
Widerspruchs. Das ist nun weder so zu versteh«, wie es der einseitige Idea¬
lismus auffaßt, daß nach einer Reihe von allerdings nothwendigen Verirrungen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/243>, abgerufen am 10.02.2025.