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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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ihre Umgebung vorwärtstreiben, als durch diese getrieben werden: Clavigo, Eg-
mont. So ist Clavigo kein guter Dramenstoff; das Schwanken des Helden zwi¬
schen Carriere und Liebe, sein Entschluß und dessen tragische Folgen sind nur der
vierte und fünfte Akt, die Umkehr, eines dramatischen Ganzen, der erste Theil
würde Clavigo'n in der Zeit darstellen, wo eine verhängnißvolle, zu seinem Wesen
nicht stimmende Liebe in ihm aufsteigt und ihn zu einer Verpflichtung fortreißt,
gegen welche dann seine Stellung, seine Gefühle, Carlos u. s. w. in richtiger
Steigerung reagiren bis zu blntigerMtastrophe; so würde etwa Shakespeare die¬
sen Stoss gefaßt haben, wenn er ein Herz dafür gehabt hätte. Derselbe Stoff
läßt sich aber auch anders fassen. Exposition: Clavigo liebt warm und ehrlich,
das erregende Moment ist ein Funken von Ehrgeiz, welcher in seine Brust ge¬
worfen wird; zweiter und dritter Akt, der Ehrgeiz erhebt sich gegen seine Liebe
bis zum Höhenpunkt, Akt drei, wo der Geliebten gegenüber die Entfremdung zu
Tage kommt und der Keim zu ihrem Tode gelegt wird, oder auch nur der Ent¬
schluß gegen Karlos ausgesprochen wird, sie zu verlassen. Darauf in Akt vier
Reaction und weiterer Kampf, in Akt fünf Beaumarchais und die Katastrophe. In
dieser letzten Auffassung, welche eine feine und detaillirte Darstellung mehr begün¬
stigt, könnte Goethe selbst deu Stoff bearbeitet haben, wenn es ihn jemals ge¬
kümmert hätte, dramatisches Leben in seine Stücke zu bringen. Die erstere Auf¬
fassung ist schwerer, aber sie macht ein größeres Stürmen der Leidenschaft möglich
und stärkere Contraste in den Stimmungen, und deshalb ist sie sür einen kühnen
Dichtergeist vielleicht lockender. Dies Beispiel statt vieler, welche aus schlechteren
Stücken gezogen werden müßten. -- Aehnlich steht der Dichter, dessen natürliche
Begabung lyrisch ist, zu der dramatischen Concentration; aber ihm gelingt sie des¬
halb nicht, weil er sich nicht aus dem Innern der Personen herausfindet. Seine
Helden sprechen Gefühle ans, ohne zur That zu kommen, ihre Seele steckt ganz
in der Zunge und sie befriedigen ihre Leidenschaft durch Klagen oder Ergüsse, in
denen sie das Außerordentliche ihres Zustandes gegenüber der Welt und dem ge¬
sunden Menschenverstand mit einem gewissen Behagen empfinden; bei solcher Dar¬
stellung werden gelegentliche dramatische Aktionen, z. B. Erstechen, zur Nebensache,
zu einer Art von symbolischem Beiwerk; sie sind wirkungslos, weil durch das
vorwiegend lyrische Ergießen der Gefühle eine feste Charakterbildung der Helden
gestört wird, so daß es zuletzt ziemlich willkürlich ist, was die Personen thun;
wenn sie es nur vorher mit Gefühl und Lebhaftigkeit anzeigen. Ein solches Stück
z. B. ist Ernst von Schwaben von Uhland, keine Bereicherung unserer Literatur;
sein Ludwig der Baier ist uicht besser. -- Es ist schwer, über solche Dichtungen
nicht bitter zu werden, denn sie sind ein Fluch unserer deutschen Literatur, und
werden noch jetzt alljährlich in großen Massen angefertigt. Seit Raumer's Hohen-
staufen gab sehr häusig Konradin's Geschichte den Stoff zu Trauerspielen. Schreiber
dieses kennt ein halbes Dutzend gedruckte und wenigstens ein Dutzend ungedruckte


ihre Umgebung vorwärtstreiben, als durch diese getrieben werden: Clavigo, Eg-
mont. So ist Clavigo kein guter Dramenstoff; das Schwanken des Helden zwi¬
schen Carriere und Liebe, sein Entschluß und dessen tragische Folgen sind nur der
vierte und fünfte Akt, die Umkehr, eines dramatischen Ganzen, der erste Theil
würde Clavigo'n in der Zeit darstellen, wo eine verhängnißvolle, zu seinem Wesen
nicht stimmende Liebe in ihm aufsteigt und ihn zu einer Verpflichtung fortreißt,
gegen welche dann seine Stellung, seine Gefühle, Carlos u. s. w. in richtiger
Steigerung reagiren bis zu blntigerMtastrophe; so würde etwa Shakespeare die¬
sen Stoss gefaßt haben, wenn er ein Herz dafür gehabt hätte. Derselbe Stoff
läßt sich aber auch anders fassen. Exposition: Clavigo liebt warm und ehrlich,
das erregende Moment ist ein Funken von Ehrgeiz, welcher in seine Brust ge¬
worfen wird; zweiter und dritter Akt, der Ehrgeiz erhebt sich gegen seine Liebe
bis zum Höhenpunkt, Akt drei, wo der Geliebten gegenüber die Entfremdung zu
Tage kommt und der Keim zu ihrem Tode gelegt wird, oder auch nur der Ent¬
schluß gegen Karlos ausgesprochen wird, sie zu verlassen. Darauf in Akt vier
Reaction und weiterer Kampf, in Akt fünf Beaumarchais und die Katastrophe. In
dieser letzten Auffassung, welche eine feine und detaillirte Darstellung mehr begün¬
stigt, könnte Goethe selbst deu Stoff bearbeitet haben, wenn es ihn jemals ge¬
kümmert hätte, dramatisches Leben in seine Stücke zu bringen. Die erstere Auf¬
fassung ist schwerer, aber sie macht ein größeres Stürmen der Leidenschaft möglich
und stärkere Contraste in den Stimmungen, und deshalb ist sie sür einen kühnen
Dichtergeist vielleicht lockender. Dies Beispiel statt vieler, welche aus schlechteren
Stücken gezogen werden müßten. — Aehnlich steht der Dichter, dessen natürliche
Begabung lyrisch ist, zu der dramatischen Concentration; aber ihm gelingt sie des¬
halb nicht, weil er sich nicht aus dem Innern der Personen herausfindet. Seine
Helden sprechen Gefühle ans, ohne zur That zu kommen, ihre Seele steckt ganz
in der Zunge und sie befriedigen ihre Leidenschaft durch Klagen oder Ergüsse, in
denen sie das Außerordentliche ihres Zustandes gegenüber der Welt und dem ge¬
sunden Menschenverstand mit einem gewissen Behagen empfinden; bei solcher Dar¬
stellung werden gelegentliche dramatische Aktionen, z. B. Erstechen, zur Nebensache,
zu einer Art von symbolischem Beiwerk; sie sind wirkungslos, weil durch das
vorwiegend lyrische Ergießen der Gefühle eine feste Charakterbildung der Helden
gestört wird, so daß es zuletzt ziemlich willkürlich ist, was die Personen thun;
wenn sie es nur vorher mit Gefühl und Lebhaftigkeit anzeigen. Ein solches Stück
z. B. ist Ernst von Schwaben von Uhland, keine Bereicherung unserer Literatur;
sein Ludwig der Baier ist uicht besser. — Es ist schwer, über solche Dichtungen
nicht bitter zu werden, denn sie sind ein Fluch unserer deutschen Literatur, und
werden noch jetzt alljährlich in großen Massen angefertigt. Seit Raumer's Hohen-
staufen gab sehr häusig Konradin's Geschichte den Stoff zu Trauerspielen. Schreiber
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/24>, abgerufen am 05.02.2025.