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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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davon an das Tageslicht tritt, und so muß er natürlich auf den Mythos und die
Religionsformen ein bedeutendes Gewicht legen.

Indem er gegen diejenigen kämpft, die ihre persönlichen Ideen ohne Rücksicht
auf die historischen Verhältnisse der Volker durchzusetzen streben, indem er selbst
gegen große Parteien kämpft, die dies unternehmen, anch wenn keine andere Partei
a>f dem Schauplatz der Oeffentlichkeit stehen sollte, beweist er sich als den Histo¬
riker. Vom Standpunkt des natürlichen Bewußtseins aus kümmert man sich nicht
darum, ob das, was man erstrebt oder für recht hält, mit dem Geiste deö Volkes
übereinstimmt; diese Reflexion ist die eines Gelehrten. Die Absicht ist löblich:
den Völkern sollen nutzlose Unruhen und Erschütterungen erspart werden; indem
die weitere Entwicklung sich' stets an das Gesammtleben eines Volkes anknüpft,
wird keine der Ideen verletzt, von denen das Volk getragen wird. Wäre die Aus¬
führung dieses Gedankens möglich, Revolution und Reaction würden unbekannte
Dinge unter den Menschen sein. Aber wie ist sie möglich? Sind die Kenntnisse
aller Fäden, die ein Volksleben zusammenhalten, irgend erreichbar? Wer will
all die verschiedenen Interessen und Wünsche, die verschiedenen Bildungskreise und
Sitten, die verschiedenen Grade des Talents und der Kraft in dem Leben eines
Volkes berechnen und ermessen? Wir können bis zu einem gewissen Grade mit
unserer Erkenntniß der Praxis voraneilen, von allen Dingen brauchen wir nicht
uns durch wirkliche Erfahrung zu überzeugen, ob sie haltbar und passend sind;
aber auch dies hat seine Grenzen, und es rritt ein Moment ein, wo ein Jeder
mit seinen Ideen vor dem, was er für recht und angemessen hält, ins Leben tre¬
ten und die Schule der Erfahrung durchmachen muß. Stuhr gehört keineswegs
zu den Historikern, die das Bestehende erhalten wollen, weil es besteht; aber er
geht zu weit, wenn er jedes individuelle Eingreifen in den Gang der Geschichte
verdammt, denn er verlangt damit Unmögliches. -- So ist er denn selbst anch
keineswegs von individuellen Anschauungen der Geschichte frei zu sprechen. Wenn
er behauptet, Preußen habe keine sucht nach Constitutionen, so mag er, wenn
man mir auf die Masse des Volkes, nur aus die Kopfzahl sieht, 1847 Recht ge¬
habt haben; wenn er aber z. B. für die heilige Allianz schwärmt und in dem
Bunde Preußens mit Rußland die Idee der endlichen und schließlichen Wieder¬
vereinigung des Orients und Occident's feiert, so kann mau wohl, ohne die Be-
sorgniß, widerlegt zu werden, die Versicherung aussprechen, daß das preußische
Volk, mag man es nun nach der Kopfzahl oder nach ständischer Gliederung neh¬
men, diese Schwärmerei nicht theilt. Aber auch abgesehen von solchen Einzelheiten,
so geht gerade Stuhr mehr, als die meisten Andern, von allgemeinen Ideen aus,
für die er sich begeistert, und die ihren Ursprung mehr in seiner Individualität,
als in der Strömung der Zeit haben, woher es denn auch zu erklären ist, daß
er, namentlich in der neusten Zeit, für seinen Ideenkreis wenig Empfänglichkeit
gefunden hat. Und eben so wenig würde er sich jemals abhalten lassen, das, was


davon an das Tageslicht tritt, und so muß er natürlich auf den Mythos und die
Religionsformen ein bedeutendes Gewicht legen.

Indem er gegen diejenigen kämpft, die ihre persönlichen Ideen ohne Rücksicht
auf die historischen Verhältnisse der Volker durchzusetzen streben, indem er selbst
gegen große Parteien kämpft, die dies unternehmen, anch wenn keine andere Partei
a>f dem Schauplatz der Oeffentlichkeit stehen sollte, beweist er sich als den Histo¬
riker. Vom Standpunkt des natürlichen Bewußtseins aus kümmert man sich nicht
darum, ob das, was man erstrebt oder für recht hält, mit dem Geiste deö Volkes
übereinstimmt; diese Reflexion ist die eines Gelehrten. Die Absicht ist löblich:
den Völkern sollen nutzlose Unruhen und Erschütterungen erspart werden; indem
die weitere Entwicklung sich' stets an das Gesammtleben eines Volkes anknüpft,
wird keine der Ideen verletzt, von denen das Volk getragen wird. Wäre die Aus¬
führung dieses Gedankens möglich, Revolution und Reaction würden unbekannte
Dinge unter den Menschen sein. Aber wie ist sie möglich? Sind die Kenntnisse
aller Fäden, die ein Volksleben zusammenhalten, irgend erreichbar? Wer will
all die verschiedenen Interessen und Wünsche, die verschiedenen Bildungskreise und
Sitten, die verschiedenen Grade des Talents und der Kraft in dem Leben eines
Volkes berechnen und ermessen? Wir können bis zu einem gewissen Grade mit
unserer Erkenntniß der Praxis voraneilen, von allen Dingen brauchen wir nicht
uns durch wirkliche Erfahrung zu überzeugen, ob sie haltbar und passend sind;
aber auch dies hat seine Grenzen, und es rritt ein Moment ein, wo ein Jeder
mit seinen Ideen vor dem, was er für recht und angemessen hält, ins Leben tre¬
ten und die Schule der Erfahrung durchmachen muß. Stuhr gehört keineswegs
zu den Historikern, die das Bestehende erhalten wollen, weil es besteht; aber er
geht zu weit, wenn er jedes individuelle Eingreifen in den Gang der Geschichte
verdammt, denn er verlangt damit Unmögliches. — So ist er denn selbst anch
keineswegs von individuellen Anschauungen der Geschichte frei zu sprechen. Wenn
er behauptet, Preußen habe keine sucht nach Constitutionen, so mag er, wenn
man mir auf die Masse des Volkes, nur aus die Kopfzahl sieht, 1847 Recht ge¬
habt haben; wenn er aber z. B. für die heilige Allianz schwärmt und in dem
Bunde Preußens mit Rußland die Idee der endlichen und schließlichen Wieder¬
vereinigung des Orients und Occident's feiert, so kann mau wohl, ohne die Be-
sorgniß, widerlegt zu werden, die Versicherung aussprechen, daß das preußische
Volk, mag man es nun nach der Kopfzahl oder nach ständischer Gliederung neh¬
men, diese Schwärmerei nicht theilt. Aber auch abgesehen von solchen Einzelheiten,
so geht gerade Stuhr mehr, als die meisten Andern, von allgemeinen Ideen aus,
für die er sich begeistert, und die ihren Ursprung mehr in seiner Individualität,
als in der Strömung der Zeit haben, woher es denn auch zu erklären ist, daß
er, namentlich in der neusten Zeit, für seinen Ideenkreis wenig Empfänglichkeit
gefunden hat. Und eben so wenig würde er sich jemals abhalten lassen, das, was


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/450>, abgerufen am 15.01.2025.