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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Dagegen finden wir bei jedem Volke, das wir als solches anerkennen, eine
ihm eigenthümliche Sprache, durch die es sich von allen Völkern anch derselben
Familie unterscheidet, und die sich zwar bei den einzelnen Stämmen desselben zu
verschiedenen oft sehr weit von einander abweichenden Dialekten modifizirt, in¬
deß in allen so viel Gemeinsames und Aehnliches behält, daß sich eine gemein¬
schaftliche Schriftsprache bilden kann, welche, von allen, die nur einen Dialekt
sprechen, ohne besonderes Studium verstanden werden kann").

Wenden wir das Gesagte auf die Verhältnisse der Rnthenen an, so fin¬
den wir, daß im östlichen Galizien zwar ein anderer Dialekt gesprochen wird als
im westlichen, daß aber beide durchaus nicht mehr von einander abweichen, als es
bei den Dialekten anderer Sprachen der Fall ist. Der masurische Anwohner der
Weichsel und der Rnthene aus der Umgegend von Lemberg verstehen einander
eben so gut und vielleicht uoch besser als der Oberöstreicher und Ostfriese, wäh¬
rend keiner von beiden den ebenfalls slavischen Kroaten versteht. Der westliche
Dialekt steht allerdings der Schriftsprache näher als der östliche ruthenische, aber
eines solchen Vorzugs erfreuen sich auch in Italien der toscanische und in Deutsch¬
land der sächsische Dialekt, ohne daß die Lombarden deshalb aufhören Italiener
und die Oestreicher Deutsche zu sein.

Auch bedienen sich die Rnthenen, wie alle andern Polen der polnischen Schrift¬
sprache, d. l). nicht nur der Gebildete liest und schreibt polnisch, sondern jeder
Nuthene, der nur lesen kann, ist im Stande, ein polnisches Buch zu verstehen,
ohne erst die Sprache als eine fremde erlernt haben zu müssen.

Wenn in frühern Zeiten manche Schriften in ruthenischen Dialekte abgefaßt
wurden, so ändert dies an der Sache nichts. Die Prooem^aler haben in ihrem
Dialekte wohl eine bedeutendere Literatur auszuweisen als die Rnthenen, und sind
deshalb doch keine schlechter" Franzosen als die andern. Dagegen aber schreibt
heut zu Tage, oder vielmehr richtiger schrieb bis zum Jahre 1848, kein Mensch
rnthenisch, und obwohl es ein eigenes ruthenisches Alphabet geben soll, wird man
doch im ganzen Lande keinen Kaufmann finden, der es in seiner Handlungscvr-
respondenz oder in seinen Facturen gebrauchte, und kein Mädchen, das sich dessel¬
ben zu ihren Wäschzetteln oder Liebesbriefen bediente.

Wo jetzt ruthcnisch geschrieben wird, ist es eine bloße Demonstration gegen
das Polenthnm, und manche sehr eifrige Rnthenen schreibe,: vielleicht ihr: vertrau¬
lichen Briefe an Familie und Freunde polnisch, weil sie sich in diesem fremden
Idiome leichter schriftlich ausdrücke", als in ihrer sogenannten Muttersprache.

Freilich schiebt man das Alles auf den polnischen Druck. Dieser, heißt es,
habe die Nutheuen um ihre Sprache gebracht, und ihnen die polnische aufgedrängt.



*) Bei rohen Völkern, die noch keine Schriftsprache haben, z. B. bei den nordamcrikq-
"löcher Indianern, sind auch die Begriffe von Volk und Stamm sehr schwankend.

Dagegen finden wir bei jedem Volke, das wir als solches anerkennen, eine
ihm eigenthümliche Sprache, durch die es sich von allen Völkern anch derselben
Familie unterscheidet, und die sich zwar bei den einzelnen Stämmen desselben zu
verschiedenen oft sehr weit von einander abweichenden Dialekten modifizirt, in¬
deß in allen so viel Gemeinsames und Aehnliches behält, daß sich eine gemein¬
schaftliche Schriftsprache bilden kann, welche, von allen, die nur einen Dialekt
sprechen, ohne besonderes Studium verstanden werden kann").

Wenden wir das Gesagte auf die Verhältnisse der Rnthenen an, so fin¬
den wir, daß im östlichen Galizien zwar ein anderer Dialekt gesprochen wird als
im westlichen, daß aber beide durchaus nicht mehr von einander abweichen, als es
bei den Dialekten anderer Sprachen der Fall ist. Der masurische Anwohner der
Weichsel und der Rnthene aus der Umgegend von Lemberg verstehen einander
eben so gut und vielleicht uoch besser als der Oberöstreicher und Ostfriese, wäh¬
rend keiner von beiden den ebenfalls slavischen Kroaten versteht. Der westliche
Dialekt steht allerdings der Schriftsprache näher als der östliche ruthenische, aber
eines solchen Vorzugs erfreuen sich auch in Italien der toscanische und in Deutsch¬
land der sächsische Dialekt, ohne daß die Lombarden deshalb aufhören Italiener
und die Oestreicher Deutsche zu sein.

Auch bedienen sich die Rnthenen, wie alle andern Polen der polnischen Schrift¬
sprache, d. l). nicht nur der Gebildete liest und schreibt polnisch, sondern jeder
Nuthene, der nur lesen kann, ist im Stande, ein polnisches Buch zu verstehen,
ohne erst die Sprache als eine fremde erlernt haben zu müssen.

Wenn in frühern Zeiten manche Schriften in ruthenischen Dialekte abgefaßt
wurden, so ändert dies an der Sache nichts. Die Prooem^aler haben in ihrem
Dialekte wohl eine bedeutendere Literatur auszuweisen als die Rnthenen, und sind
deshalb doch keine schlechter» Franzosen als die andern. Dagegen aber schreibt
heut zu Tage, oder vielmehr richtiger schrieb bis zum Jahre 1848, kein Mensch
rnthenisch, und obwohl es ein eigenes ruthenisches Alphabet geben soll, wird man
doch im ganzen Lande keinen Kaufmann finden, der es in seiner Handlungscvr-
respondenz oder in seinen Facturen gebrauchte, und kein Mädchen, das sich dessel¬
ben zu ihren Wäschzetteln oder Liebesbriefen bediente.

Wo jetzt ruthcnisch geschrieben wird, ist es eine bloße Demonstration gegen
das Polenthnm, und manche sehr eifrige Rnthenen schreibe,: vielleicht ihr: vertrau¬
lichen Briefe an Familie und Freunde polnisch, weil sie sich in diesem fremden
Idiome leichter schriftlich ausdrücke», als in ihrer sogenannten Muttersprache.

Freilich schiebt man das Alles auf den polnischen Druck. Dieser, heißt es,
habe die Nutheuen um ihre Sprache gebracht, und ihnen die polnische aufgedrängt.



*) Bei rohen Völkern, die noch keine Schriftsprache haben, z. B. bei den nordamcrikq-
"löcher Indianern, sind auch die Begriffe von Volk und Stamm sehr schwankend.
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[0365] Dagegen finden wir bei jedem Volke, das wir als solches anerkennen, eine ihm eigenthümliche Sprache, durch die es sich von allen Völkern anch derselben Familie unterscheidet, und die sich zwar bei den einzelnen Stämmen desselben zu verschiedenen oft sehr weit von einander abweichenden Dialekten modifizirt, in¬ deß in allen so viel Gemeinsames und Aehnliches behält, daß sich eine gemein¬ schaftliche Schriftsprache bilden kann, welche, von allen, die nur einen Dialekt sprechen, ohne besonderes Studium verstanden werden kann"). Wenden wir das Gesagte auf die Verhältnisse der Rnthenen an, so fin¬ den wir, daß im östlichen Galizien zwar ein anderer Dialekt gesprochen wird als im westlichen, daß aber beide durchaus nicht mehr von einander abweichen, als es bei den Dialekten anderer Sprachen der Fall ist. Der masurische Anwohner der Weichsel und der Rnthene aus der Umgegend von Lemberg verstehen einander eben so gut und vielleicht uoch besser als der Oberöstreicher und Ostfriese, wäh¬ rend keiner von beiden den ebenfalls slavischen Kroaten versteht. Der westliche Dialekt steht allerdings der Schriftsprache näher als der östliche ruthenische, aber eines solchen Vorzugs erfreuen sich auch in Italien der toscanische und in Deutsch¬ land der sächsische Dialekt, ohne daß die Lombarden deshalb aufhören Italiener und die Oestreicher Deutsche zu sein. Auch bedienen sich die Rnthenen, wie alle andern Polen der polnischen Schrift¬ sprache, d. l). nicht nur der Gebildete liest und schreibt polnisch, sondern jeder Nuthene, der nur lesen kann, ist im Stande, ein polnisches Buch zu verstehen, ohne erst die Sprache als eine fremde erlernt haben zu müssen. Wenn in frühern Zeiten manche Schriften in ruthenischen Dialekte abgefaßt wurden, so ändert dies an der Sache nichts. Die Prooem^aler haben in ihrem Dialekte wohl eine bedeutendere Literatur auszuweisen als die Rnthenen, und sind deshalb doch keine schlechter» Franzosen als die andern. Dagegen aber schreibt heut zu Tage, oder vielmehr richtiger schrieb bis zum Jahre 1848, kein Mensch rnthenisch, und obwohl es ein eigenes ruthenisches Alphabet geben soll, wird man doch im ganzen Lande keinen Kaufmann finden, der es in seiner Handlungscvr- respondenz oder in seinen Facturen gebrauchte, und kein Mädchen, das sich dessel¬ ben zu ihren Wäschzetteln oder Liebesbriefen bediente. Wo jetzt ruthcnisch geschrieben wird, ist es eine bloße Demonstration gegen das Polenthnm, und manche sehr eifrige Rnthenen schreibe,: vielleicht ihr: vertrau¬ lichen Briefe an Familie und Freunde polnisch, weil sie sich in diesem fremden Idiome leichter schriftlich ausdrücke», als in ihrer sogenannten Muttersprache. Freilich schiebt man das Alles auf den polnischen Druck. Dieser, heißt es, habe die Nutheuen um ihre Sprache gebracht, und ihnen die polnische aufgedrängt. *) Bei rohen Völkern, die noch keine Schriftsprache haben, z. B. bei den nordamcrikq- "löcher Indianern, sind auch die Begriffe von Volk und Stamm sehr schwankend.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/365>, abgerufen am 15.01.2025.