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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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theilen, welche das östliche Galizien bewohnen und sich weit hinein nach Rußland
ausdehnen, siud zwar ein, wie die Polen, dem großen slavischen Stamme ange-
höriges Volk, von diesen selbst aber eben so verschieden, als etwa die Czechen.
In frühern Zeiten waren sie sogar staatlich mit ihnen nicht verbunden, sondern
wurden von ihren eigenen ruthenischen Fürsten regiert. Auch sprachen und schrie¬
ben sie ihre eigene rnthenische Sprache und bedienten sich sogar dabei nicht wie
die Polen des lateinischen, sondern eines eigenen, des sogenannten Cyrill'schen
ABC. Als sie jedoch später unter polnische Herrschaft kamen, suchte man sie
auf alle mögliche Weise zu polouisiren. Die griechische Kirche wurde von dem
mächtigen römisch-katholischen Clerus gedrückt und verfolgt, die rnthenische Sprache
von der polnischen ans dem öffentlichen Gebrauche verdrängt und dadurch so ver¬
nachlässigt, daß sie zum literarischen Gebrauche fast ganz untauglich wurde, und
selbst geborene Nutheucn, wenn sie als Schriftsteller auftraten, in polnischer Sprache
schrieben. Der rnthenische Adel, um seine Macht und seinen Einfluß auch unter
dem polnischen Regime zu bewahren, opferte größtentheils seine Nationalität, trat
von seiner griechischen zur herrschenden römischen Kirche über, vertauschte seine
Sprache mit der polnischen und polonisirte sich nach und nach ganz. Das Land¬
volk jedoch und ein kleiner Theil des Adels hielten fest an ihrer Religion und
Sprache, und fühlen sich bis zum heutigen Tage als ein von den Polen verschie¬
denes Volk, so daß man auch im gemeinen Leben Ausdrücke, wie: "der da ist
ein Pole, jener ein Nuthene" und ähnliche auf die Verschiedenheit der Nationa¬
lität hinweisende zu hören bekommt. Deshalb haben anch die nationalen Bestre¬
bungen der Polen und die Versuche derselben, ihr polnisches Reich wieder herzu¬
stellen, bei den Ruthenen durchaus keine Sympathien gefunden, und deshalb wahren
sie sich auch so energisch gegen jeden Versuch derselben, ihnen in Schule und
Tribunal die polnische Sprache aufzudrängen, und wollen lieber, bis ihr eigenes,
jetzt noch zu wenig ausgebildetes Idiom zu diesem Gebrauche tauglich sein wird,
sich der deutschen Sprache bedienen, weil sie überzeugt sind, daß sie von dieser
Seite her weniger für ihre Nationalität zu befürchten haben, als von den Ueber-
griffen der Polen.

Ohne die Nichtigkeit dieser Angaben in Frage stellen und z. B. unter¬
suchen zu wollen, ob die Bedrückung der griechischen Kirche, die hier mit Polo-
nisirnngsbestrebungen in Verbindung gebracht wird, nicht vielmehr blos in reli¬
giöser Intoleranz, ihren Grund hatte, wie sie anch anderswo außerhalb Polens
und wohl in noch höherem Grade zu siudeu war, und in diesem Lande selbst
nicht nur gegen griechische Christe", souderu auch gegen Protestanten, die keine
Ruthenen waren, sich geltend machte, wollen wir uns vorerst gegen die Beweis¬
kraft geschichtlicher Deductionen in einer Sache verwahren, wo es hauptsächlich
auf gegenwärtige Zustände ankommt. Die Frage über die Nationalität der Ru¬
thenen ist offenbar mehr eine statistische als eine historische.


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theilen, welche das östliche Galizien bewohnen und sich weit hinein nach Rußland
ausdehnen, siud zwar ein, wie die Polen, dem großen slavischen Stamme ange-
höriges Volk, von diesen selbst aber eben so verschieden, als etwa die Czechen.
In frühern Zeiten waren sie sogar staatlich mit ihnen nicht verbunden, sondern
wurden von ihren eigenen ruthenischen Fürsten regiert. Auch sprachen und schrie¬
ben sie ihre eigene rnthenische Sprache und bedienten sich sogar dabei nicht wie
die Polen des lateinischen, sondern eines eigenen, des sogenannten Cyrill'schen
ABC. Als sie jedoch später unter polnische Herrschaft kamen, suchte man sie
auf alle mögliche Weise zu polouisiren. Die griechische Kirche wurde von dem
mächtigen römisch-katholischen Clerus gedrückt und verfolgt, die rnthenische Sprache
von der polnischen ans dem öffentlichen Gebrauche verdrängt und dadurch so ver¬
nachlässigt, daß sie zum literarischen Gebrauche fast ganz untauglich wurde, und
selbst geborene Nutheucn, wenn sie als Schriftsteller auftraten, in polnischer Sprache
schrieben. Der rnthenische Adel, um seine Macht und seinen Einfluß auch unter
dem polnischen Regime zu bewahren, opferte größtentheils seine Nationalität, trat
von seiner griechischen zur herrschenden römischen Kirche über, vertauschte seine
Sprache mit der polnischen und polonisirte sich nach und nach ganz. Das Land¬
volk jedoch und ein kleiner Theil des Adels hielten fest an ihrer Religion und
Sprache, und fühlen sich bis zum heutigen Tage als ein von den Polen verschie¬
denes Volk, so daß man auch im gemeinen Leben Ausdrücke, wie: „der da ist
ein Pole, jener ein Nuthene" und ähnliche auf die Verschiedenheit der Nationa¬
lität hinweisende zu hören bekommt. Deshalb haben anch die nationalen Bestre¬
bungen der Polen und die Versuche derselben, ihr polnisches Reich wieder herzu¬
stellen, bei den Ruthenen durchaus keine Sympathien gefunden, und deshalb wahren
sie sich auch so energisch gegen jeden Versuch derselben, ihnen in Schule und
Tribunal die polnische Sprache aufzudrängen, und wollen lieber, bis ihr eigenes,
jetzt noch zu wenig ausgebildetes Idiom zu diesem Gebrauche tauglich sein wird,
sich der deutschen Sprache bedienen, weil sie überzeugt sind, daß sie von dieser
Seite her weniger für ihre Nationalität zu befürchten haben, als von den Ueber-
griffen der Polen.

Ohne die Nichtigkeit dieser Angaben in Frage stellen und z. B. unter¬
suchen zu wollen, ob die Bedrückung der griechischen Kirche, die hier mit Polo-
nisirnngsbestrebungen in Verbindung gebracht wird, nicht vielmehr blos in reli¬
giöser Intoleranz, ihren Grund hatte, wie sie anch anderswo außerhalb Polens
und wohl in noch höherem Grade zu siudeu war, und in diesem Lande selbst
nicht nur gegen griechische Christe», souderu auch gegen Protestanten, die keine
Ruthenen waren, sich geltend machte, wollen wir uns vorerst gegen die Beweis¬
kraft geschichtlicher Deductionen in einer Sache verwahren, wo es hauptsächlich
auf gegenwärtige Zustände ankommt. Die Frage über die Nationalität der Ru¬
thenen ist offenbar mehr eine statistische als eine historische.


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[0363] theilen, welche das östliche Galizien bewohnen und sich weit hinein nach Rußland ausdehnen, siud zwar ein, wie die Polen, dem großen slavischen Stamme ange- höriges Volk, von diesen selbst aber eben so verschieden, als etwa die Czechen. In frühern Zeiten waren sie sogar staatlich mit ihnen nicht verbunden, sondern wurden von ihren eigenen ruthenischen Fürsten regiert. Auch sprachen und schrie¬ ben sie ihre eigene rnthenische Sprache und bedienten sich sogar dabei nicht wie die Polen des lateinischen, sondern eines eigenen, des sogenannten Cyrill'schen ABC. Als sie jedoch später unter polnische Herrschaft kamen, suchte man sie auf alle mögliche Weise zu polouisiren. Die griechische Kirche wurde von dem mächtigen römisch-katholischen Clerus gedrückt und verfolgt, die rnthenische Sprache von der polnischen ans dem öffentlichen Gebrauche verdrängt und dadurch so ver¬ nachlässigt, daß sie zum literarischen Gebrauche fast ganz untauglich wurde, und selbst geborene Nutheucn, wenn sie als Schriftsteller auftraten, in polnischer Sprache schrieben. Der rnthenische Adel, um seine Macht und seinen Einfluß auch unter dem polnischen Regime zu bewahren, opferte größtentheils seine Nationalität, trat von seiner griechischen zur herrschenden römischen Kirche über, vertauschte seine Sprache mit der polnischen und polonisirte sich nach und nach ganz. Das Land¬ volk jedoch und ein kleiner Theil des Adels hielten fest an ihrer Religion und Sprache, und fühlen sich bis zum heutigen Tage als ein von den Polen verschie¬ denes Volk, so daß man auch im gemeinen Leben Ausdrücke, wie: „der da ist ein Pole, jener ein Nuthene" und ähnliche auf die Verschiedenheit der Nationa¬ lität hinweisende zu hören bekommt. Deshalb haben anch die nationalen Bestre¬ bungen der Polen und die Versuche derselben, ihr polnisches Reich wieder herzu¬ stellen, bei den Ruthenen durchaus keine Sympathien gefunden, und deshalb wahren sie sich auch so energisch gegen jeden Versuch derselben, ihnen in Schule und Tribunal die polnische Sprache aufzudrängen, und wollen lieber, bis ihr eigenes, jetzt noch zu wenig ausgebildetes Idiom zu diesem Gebrauche tauglich sein wird, sich der deutschen Sprache bedienen, weil sie überzeugt sind, daß sie von dieser Seite her weniger für ihre Nationalität zu befürchten haben, als von den Ueber- griffen der Polen. Ohne die Nichtigkeit dieser Angaben in Frage stellen und z. B. unter¬ suchen zu wollen, ob die Bedrückung der griechischen Kirche, die hier mit Polo- nisirnngsbestrebungen in Verbindung gebracht wird, nicht vielmehr blos in reli¬ giöser Intoleranz, ihren Grund hatte, wie sie anch anderswo außerhalb Polens und wohl in noch höherem Grade zu siudeu war, und in diesem Lande selbst nicht nur gegen griechische Christe», souderu auch gegen Protestanten, die keine Ruthenen waren, sich geltend machte, wollen wir uns vorerst gegen die Beweis¬ kraft geschichtlicher Deductionen in einer Sache verwahren, wo es hauptsächlich auf gegenwärtige Zustände ankommt. Die Frage über die Nationalität der Ru¬ thenen ist offenbar mehr eine statistische als eine historische. 46*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/363>, abgerufen am 15.01.2025.