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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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wußtsein, wie es sich von der Kindheit bis zum Greisenalter entwickelt? oder von
der Theologie? oder von der Menschheit im Lauf der Geschichte? so findet man
keine Antwort. Es ist das alles, und zwar durcheinander; eine Fata Morgana,
über deren zeitliches und räumliches Verhältniß wir keinen Ausschluß haben. Es
ist "der Geist" überhaupt, um den es sich handelt, und es klingt wie ein mär¬
chenhaft sinniger Mythus von der Menschwerdung eines Gottes bis zu seiner
Himmelfahrt. Die Realität scheint überall durch, in den meisten Fällen fühlen
wir, worauf sich das ideelle Spiegelbild bezieht, aber wie das Alles zusammen¬
hangt, bleibt ein Räthsel. ES ist ein- Parabel, in welcher versinnlicht wird, wie
ein einseitiger Standpunkt des Bewußtseins seinen Gegensatz als Reaction hervor¬
ruft, nach hartem Kampf sich mit ihm zu einer "höhern Einheit" versöhnt, in
dieser Stellung zu einer neuen Einseitigkeit verhärtet u. s. w. Jeder Standpunkt
ist gut, weil nothwendiges Resultat der frühern; jeder böse im Keim, weil er
Alast der absolute ist. Das ist der Grundbegriff von der Flüssigkeit des Rechts,
wie ihn die Schule populär gemacht hat; je nach der geistigen Richtung wird die
absolute oder endliche Seite der Erscheinung hervorgehoben. Im ersten Eifer der
neuen Entdeckung ruft der Idealismus: Alles ist gut, was da ist und wie es da
ist. Die zweite Stufe ist: Alles ist gut im Wesen, sobald es sich mir in der
Erscheinung durchgearbeitet hat. Die dritte: alle Erscheinung ist schlecht, denn
sie erschöpft das Wesen nicht. Alle drei Standpunkte hat Bauer durchgemacht.

Die phänomenologische Behandlung ist in der Logik wie in der Philosophie
der Geschichte. In der ersten wird mit Begriffen: "Sein," "Nichtsein," "Wesen"
u. s. w. gerade so umgegangen, wie in der zweiten mit: "Revolution," Kritik,"
"Monarchie" -- die abstracten Begriffe werden personificirt. Auch das ist Theo-
logie; "des Menschen Sohn" wird in der Erscheinung verehrt, warum sollte nicht
auch "die Kritik" als Jncarnation in einer bestimmten Person -- am liebsten in
der eignen -- gefühlt werden? Man kennt den Baccalaureus im zweiten Theil
des Goethescher Faust, der die Erschaffung der Welt als einen Act seines Bewußt¬
seins begreift.

Um das Jahr 1834 kam in die Hegel'sche Theologie eine neue Wendung.
Wahrend sich in Berlin die Schule damit begnügte, die phänomenologischen Schat¬
tenbilder des Meisters im Detail weiter auszuführen, und diese oder jene logische
Formel tiefer zu durchdenken -- so machte Herr Werber die überraschende Ent¬
deckung, daß das "Nichts" nicht blos, wie es Hegel aufgefaßt, identisch sei mit
^M "Sein," sondern viel inhaltreicher, und gerieth darüber in eine gewisse
Schwärmerei für das absolute Nichts -- ging die schwäbische Schule mit den
Principien, die sie durch Hegel gewonnen hatte, dem empirischen Stoff ernsthaft
Zu Leibe. David Strauß kritisirte das Leben Jesu nicht mehr, wie es bis dahin
geschehen, vom einseitig pragmatischen, sondern vom speculativen Standpunkt aus,
ohne dadurch der Gründlichkeit der Kritik etwas zu vergeben. Er stellte den idea-


wußtsein, wie es sich von der Kindheit bis zum Greisenalter entwickelt? oder von
der Theologie? oder von der Menschheit im Lauf der Geschichte? so findet man
keine Antwort. Es ist das alles, und zwar durcheinander; eine Fata Morgana,
über deren zeitliches und räumliches Verhältniß wir keinen Ausschluß haben. Es
ist „der Geist" überhaupt, um den es sich handelt, und es klingt wie ein mär¬
chenhaft sinniger Mythus von der Menschwerdung eines Gottes bis zu seiner
Himmelfahrt. Die Realität scheint überall durch, in den meisten Fällen fühlen
wir, worauf sich das ideelle Spiegelbild bezieht, aber wie das Alles zusammen¬
hangt, bleibt ein Räthsel. ES ist ein- Parabel, in welcher versinnlicht wird, wie
ein einseitiger Standpunkt des Bewußtseins seinen Gegensatz als Reaction hervor¬
ruft, nach hartem Kampf sich mit ihm zu einer „höhern Einheit" versöhnt, in
dieser Stellung zu einer neuen Einseitigkeit verhärtet u. s. w. Jeder Standpunkt
ist gut, weil nothwendiges Resultat der frühern; jeder böse im Keim, weil er
Alast der absolute ist. Das ist der Grundbegriff von der Flüssigkeit des Rechts,
wie ihn die Schule populär gemacht hat; je nach der geistigen Richtung wird die
absolute oder endliche Seite der Erscheinung hervorgehoben. Im ersten Eifer der
neuen Entdeckung ruft der Idealismus: Alles ist gut, was da ist und wie es da
ist. Die zweite Stufe ist: Alles ist gut im Wesen, sobald es sich mir in der
Erscheinung durchgearbeitet hat. Die dritte: alle Erscheinung ist schlecht, denn
sie erschöpft das Wesen nicht. Alle drei Standpunkte hat Bauer durchgemacht.

Die phänomenologische Behandlung ist in der Logik wie in der Philosophie
der Geschichte. In der ersten wird mit Begriffen: „Sein," „Nichtsein," „Wesen"
u. s. w. gerade so umgegangen, wie in der zweiten mit: „Revolution," Kritik,"
"Monarchie" — die abstracten Begriffe werden personificirt. Auch das ist Theo-
logie; „des Menschen Sohn" wird in der Erscheinung verehrt, warum sollte nicht
auch „die Kritik" als Jncarnation in einer bestimmten Person — am liebsten in
der eignen — gefühlt werden? Man kennt den Baccalaureus im zweiten Theil
des Goethescher Faust, der die Erschaffung der Welt als einen Act seines Bewußt¬
seins begreift.

Um das Jahr 1834 kam in die Hegel'sche Theologie eine neue Wendung.
Wahrend sich in Berlin die Schule damit begnügte, die phänomenologischen Schat¬
tenbilder des Meisters im Detail weiter auszuführen, und diese oder jene logische
Formel tiefer zu durchdenken — so machte Herr Werber die überraschende Ent¬
deckung, daß das „Nichts" nicht blos, wie es Hegel aufgefaßt, identisch sei mit
^M „Sein," sondern viel inhaltreicher, und gerieth darüber in eine gewisse
Schwärmerei für das absolute Nichts — ging die schwäbische Schule mit den
Principien, die sie durch Hegel gewonnen hatte, dem empirischen Stoff ernsthaft
Zu Leibe. David Strauß kritisirte das Leben Jesu nicht mehr, wie es bis dahin
geschehen, vom einseitig pragmatischen, sondern vom speculativen Standpunkt aus,
ohne dadurch der Gründlichkeit der Kritik etwas zu vergeben. Er stellte den idea-


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[0319] wußtsein, wie es sich von der Kindheit bis zum Greisenalter entwickelt? oder von der Theologie? oder von der Menschheit im Lauf der Geschichte? so findet man keine Antwort. Es ist das alles, und zwar durcheinander; eine Fata Morgana, über deren zeitliches und räumliches Verhältniß wir keinen Ausschluß haben. Es ist „der Geist" überhaupt, um den es sich handelt, und es klingt wie ein mär¬ chenhaft sinniger Mythus von der Menschwerdung eines Gottes bis zu seiner Himmelfahrt. Die Realität scheint überall durch, in den meisten Fällen fühlen wir, worauf sich das ideelle Spiegelbild bezieht, aber wie das Alles zusammen¬ hangt, bleibt ein Räthsel. ES ist ein- Parabel, in welcher versinnlicht wird, wie ein einseitiger Standpunkt des Bewußtseins seinen Gegensatz als Reaction hervor¬ ruft, nach hartem Kampf sich mit ihm zu einer „höhern Einheit" versöhnt, in dieser Stellung zu einer neuen Einseitigkeit verhärtet u. s. w. Jeder Standpunkt ist gut, weil nothwendiges Resultat der frühern; jeder böse im Keim, weil er Alast der absolute ist. Das ist der Grundbegriff von der Flüssigkeit des Rechts, wie ihn die Schule populär gemacht hat; je nach der geistigen Richtung wird die absolute oder endliche Seite der Erscheinung hervorgehoben. Im ersten Eifer der neuen Entdeckung ruft der Idealismus: Alles ist gut, was da ist und wie es da ist. Die zweite Stufe ist: Alles ist gut im Wesen, sobald es sich mir in der Erscheinung durchgearbeitet hat. Die dritte: alle Erscheinung ist schlecht, denn sie erschöpft das Wesen nicht. Alle drei Standpunkte hat Bauer durchgemacht. Die phänomenologische Behandlung ist in der Logik wie in der Philosophie der Geschichte. In der ersten wird mit Begriffen: „Sein," „Nichtsein," „Wesen" u. s. w. gerade so umgegangen, wie in der zweiten mit: „Revolution," Kritik," "Monarchie" — die abstracten Begriffe werden personificirt. Auch das ist Theo- logie; „des Menschen Sohn" wird in der Erscheinung verehrt, warum sollte nicht auch „die Kritik" als Jncarnation in einer bestimmten Person — am liebsten in der eignen — gefühlt werden? Man kennt den Baccalaureus im zweiten Theil des Goethescher Faust, der die Erschaffung der Welt als einen Act seines Bewußt¬ seins begreift. Um das Jahr 1834 kam in die Hegel'sche Theologie eine neue Wendung. Wahrend sich in Berlin die Schule damit begnügte, die phänomenologischen Schat¬ tenbilder des Meisters im Detail weiter auszuführen, und diese oder jene logische Formel tiefer zu durchdenken — so machte Herr Werber die überraschende Ent¬ deckung, daß das „Nichts" nicht blos, wie es Hegel aufgefaßt, identisch sei mit ^M „Sein," sondern viel inhaltreicher, und gerieth darüber in eine gewisse Schwärmerei für das absolute Nichts — ging die schwäbische Schule mit den Principien, die sie durch Hegel gewonnen hatte, dem empirischen Stoff ernsthaft Zu Leibe. David Strauß kritisirte das Leben Jesu nicht mehr, wie es bis dahin geschehen, vom einseitig pragmatischen, sondern vom speculativen Standpunkt aus, ohne dadurch der Gründlichkeit der Kritik etwas zu vergeben. Er stellte den idea-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/319>, abgerufen am 15.01.2025.