Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gewagten Schritt zum andern, auf die Abberufung der Frankfurter Deputirten
wird schnell die rechtswidrige Veränderung des preußischen Wahlgesetzes, auf jede
Weigerung eines Bezirkes, nach dem neuen Wahlgesetz zu wählen, werden neue
Willkürlichkeiten solgen müssen, und wieder auf jeden Widerstand der neuen Kam¬
mern neue Beschränkungen der Verfassung und der gesetzlichen Freiheit, die Presse
wird lästig und unter tüchtige Controle gesetzt, die politischen Vereine werden
verboten; eins folgt aus dem andern, und dieselben Männer, die sich als Helfer
mit den Kronen verbanden, ehrlich und mit erträglich liberalen Empfindungen,
um ihr aus dieser Verlegenheit zu helfen, werden sich und die Krone bis zu
einem Punkt der Tyrannei führen, vor dem sie jetzt selbst erschrecken würden.
Denkt daran, auch Graf Stadion vou Oestreich war ein ehrlicher und "liberaler"
Mann, als er vor einem halben Jahr übernahm, den Kaiserstaat zu retten und
wohin ist er gedrängt worden? Der Staat in die Hände der Russen, er selbst in
traurige Geistesschwache. Vielleicht ist die Kraft der preußischen Minister dauerhafter,
aber schon jetzt sind sie von der octroyirten Verfassung durch alle möglichen Gesetze
und Gesetzentwürfe, die Wenige zu lesen, noch wenigere zu befolgen Lust haben, bis
zur Aenderung des Wahlgesetzes, also der Verfassung, die sie selbst publicirt haben,
gekommen. Aendern sie eigenmächtig das Wahlgesetz etwa durch neue Interpre¬
tation des Wortes "selbstständig", so sind sie bereits jetzt Verbrecher gegen das
von ihnen selbst octrvyirte Verfassnngsgesetz.

Die Gesandten der königlichen Höfe sind jetzt in Berlin versammelt, die
Reichsverfassung zu revidiren, diese revidirte Verfassung soll octroyirt werden und
die Anhänger der Krone hoffen dadurch alle billigen Forderungen zu befriedigen.
Auch das ist eine verhängnißvolle Täuschung. Es ist möglich, daß die so revidirte
Verfassung in einzelnen Punkten praktischer wird; ja es ist möglich -- obwohl
wir das sehr bezweifeln -- daß sie von unserem Standpunkt aus im Gan¬
zen besser wird, als die Verfassung der Paulskirche. Alles das kommt jetzt
gar nicht mehr in Betracht; die Berliner Verfassung und sei sie ein Meisterstück
hat grade so viel Berechtigung, als eine andere, die z. B. die Märzvereine dem
deutschen Volk octroyiren könnten, sie ist eine ministerielle Stilübung, denn sie
ist nicht nach Recht gemacht. Dreißig Staaten haben die Frankfurter Ver¬
fassung anerkannt, mit welcher Stirn kann die preußische Regierung ihre unge¬
setzliche Arbeit diesen aufdrängen wollen? sie hat auch uicht den kleinsten Rechts¬
titel dafür. Ihr einziges Recht ist -- Gewalt. Gutwillig werden sehr wenige
der dreißig Verbündeten die octrvyirte Verfassung annehmen, und wenn die Re¬
genten es wollten, sie dürfen es nicht wagen, ohne wortbrüchig zu werden und
die Rache der empörten Völker auf sich zu laden. Und kennt die preußische Re¬
gierung den tiefen Haß, das Mißtrauen, ja die Verachtung so wenig, welche im
Süden und Westen Deutschlands seit jener Audienzstunde in Berlin gegen sie em¬
porquillt? Oder glaubt sie, daß die finsteren Stirnen und zornigen Blicke nur


gewagten Schritt zum andern, auf die Abberufung der Frankfurter Deputirten
wird schnell die rechtswidrige Veränderung des preußischen Wahlgesetzes, auf jede
Weigerung eines Bezirkes, nach dem neuen Wahlgesetz zu wählen, werden neue
Willkürlichkeiten solgen müssen, und wieder auf jeden Widerstand der neuen Kam¬
mern neue Beschränkungen der Verfassung und der gesetzlichen Freiheit, die Presse
wird lästig und unter tüchtige Controle gesetzt, die politischen Vereine werden
verboten; eins folgt aus dem andern, und dieselben Männer, die sich als Helfer
mit den Kronen verbanden, ehrlich und mit erträglich liberalen Empfindungen,
um ihr aus dieser Verlegenheit zu helfen, werden sich und die Krone bis zu
einem Punkt der Tyrannei führen, vor dem sie jetzt selbst erschrecken würden.
Denkt daran, auch Graf Stadion vou Oestreich war ein ehrlicher und „liberaler"
Mann, als er vor einem halben Jahr übernahm, den Kaiserstaat zu retten und
wohin ist er gedrängt worden? Der Staat in die Hände der Russen, er selbst in
traurige Geistesschwache. Vielleicht ist die Kraft der preußischen Minister dauerhafter,
aber schon jetzt sind sie von der octroyirten Verfassung durch alle möglichen Gesetze
und Gesetzentwürfe, die Wenige zu lesen, noch wenigere zu befolgen Lust haben, bis
zur Aenderung des Wahlgesetzes, also der Verfassung, die sie selbst publicirt haben,
gekommen. Aendern sie eigenmächtig das Wahlgesetz etwa durch neue Interpre¬
tation des Wortes „selbstständig", so sind sie bereits jetzt Verbrecher gegen das
von ihnen selbst octrvyirte Verfassnngsgesetz.

Die Gesandten der königlichen Höfe sind jetzt in Berlin versammelt, die
Reichsverfassung zu revidiren, diese revidirte Verfassung soll octroyirt werden und
die Anhänger der Krone hoffen dadurch alle billigen Forderungen zu befriedigen.
Auch das ist eine verhängnißvolle Täuschung. Es ist möglich, daß die so revidirte
Verfassung in einzelnen Punkten praktischer wird; ja es ist möglich — obwohl
wir das sehr bezweifeln — daß sie von unserem Standpunkt aus im Gan¬
zen besser wird, als die Verfassung der Paulskirche. Alles das kommt jetzt
gar nicht mehr in Betracht; die Berliner Verfassung und sei sie ein Meisterstück
hat grade so viel Berechtigung, als eine andere, die z. B. die Märzvereine dem
deutschen Volk octroyiren könnten, sie ist eine ministerielle Stilübung, denn sie
ist nicht nach Recht gemacht. Dreißig Staaten haben die Frankfurter Ver¬
fassung anerkannt, mit welcher Stirn kann die preußische Regierung ihre unge¬
setzliche Arbeit diesen aufdrängen wollen? sie hat auch uicht den kleinsten Rechts¬
titel dafür. Ihr einziges Recht ist — Gewalt. Gutwillig werden sehr wenige
der dreißig Verbündeten die octrvyirte Verfassung annehmen, und wenn die Re¬
genten es wollten, sie dürfen es nicht wagen, ohne wortbrüchig zu werden und
die Rache der empörten Völker auf sich zu laden. Und kennt die preußische Re¬
gierung den tiefen Haß, das Mißtrauen, ja die Verachtung so wenig, welche im
Süden und Westen Deutschlands seit jener Audienzstunde in Berlin gegen sie em¬
porquillt? Oder glaubt sie, daß die finsteren Stirnen und zornigen Blicke nur


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0292" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278802"/>
          <p xml:id="ID_906" prev="#ID_905"> gewagten Schritt zum andern, auf die Abberufung der Frankfurter Deputirten<lb/>
wird schnell die rechtswidrige Veränderung des preußischen Wahlgesetzes, auf jede<lb/>
Weigerung eines Bezirkes, nach dem neuen Wahlgesetz zu wählen, werden neue<lb/>
Willkürlichkeiten solgen müssen, und wieder auf jeden Widerstand der neuen Kam¬<lb/>
mern neue Beschränkungen der Verfassung und der gesetzlichen Freiheit, die Presse<lb/>
wird lästig und unter tüchtige Controle gesetzt, die politischen Vereine werden<lb/>
verboten; eins folgt aus dem andern, und dieselben Männer, die sich als Helfer<lb/>
mit den Kronen verbanden, ehrlich und mit erträglich liberalen Empfindungen,<lb/>
um ihr aus dieser Verlegenheit zu helfen, werden sich und die Krone bis zu<lb/>
einem Punkt der Tyrannei führen, vor dem sie jetzt selbst erschrecken würden.<lb/>
Denkt daran, auch Graf Stadion vou Oestreich war ein ehrlicher und &#x201E;liberaler"<lb/>
Mann, als er vor einem halben Jahr übernahm, den Kaiserstaat zu retten und<lb/>
wohin ist er gedrängt worden? Der Staat in die Hände der Russen, er selbst in<lb/>
traurige Geistesschwache. Vielleicht ist die Kraft der preußischen Minister dauerhafter,<lb/>
aber schon jetzt sind sie von der octroyirten Verfassung durch alle möglichen Gesetze<lb/>
und Gesetzentwürfe, die Wenige zu lesen, noch wenigere zu befolgen Lust haben, bis<lb/>
zur Aenderung des Wahlgesetzes, also der Verfassung, die sie selbst publicirt haben,<lb/>
gekommen. Aendern sie eigenmächtig das Wahlgesetz etwa durch neue Interpre¬<lb/>
tation des Wortes &#x201E;selbstständig", so sind sie bereits jetzt Verbrecher gegen das<lb/>
von ihnen selbst octrvyirte Verfassnngsgesetz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_907" next="#ID_908"> Die Gesandten der königlichen Höfe sind jetzt in Berlin versammelt, die<lb/>
Reichsverfassung zu revidiren, diese revidirte Verfassung soll octroyirt werden und<lb/>
die Anhänger der Krone hoffen dadurch alle billigen Forderungen zu befriedigen.<lb/>
Auch das ist eine verhängnißvolle Täuschung. Es ist möglich, daß die so revidirte<lb/>
Verfassung in einzelnen Punkten praktischer wird; ja es ist möglich &#x2014; obwohl<lb/>
wir das sehr bezweifeln &#x2014; daß sie von unserem Standpunkt aus im Gan¬<lb/>
zen besser wird, als die Verfassung der Paulskirche. Alles das kommt jetzt<lb/>
gar nicht mehr in Betracht; die Berliner Verfassung und sei sie ein Meisterstück<lb/>
hat grade so viel Berechtigung, als eine andere, die z. B. die Märzvereine dem<lb/>
deutschen Volk octroyiren könnten, sie ist eine ministerielle Stilübung, denn sie<lb/>
ist nicht nach Recht gemacht. Dreißig Staaten haben die Frankfurter Ver¬<lb/>
fassung anerkannt, mit welcher Stirn kann die preußische Regierung ihre unge¬<lb/>
setzliche Arbeit diesen aufdrängen wollen? sie hat auch uicht den kleinsten Rechts¬<lb/>
titel dafür. Ihr einziges Recht ist &#x2014; Gewalt. Gutwillig werden sehr wenige<lb/>
der dreißig Verbündeten die octrvyirte Verfassung annehmen, und wenn die Re¬<lb/>
genten es wollten, sie dürfen es nicht wagen, ohne wortbrüchig zu werden und<lb/>
die Rache der empörten Völker auf sich zu laden. Und kennt die preußische Re¬<lb/>
gierung den tiefen Haß, das Mißtrauen, ja die Verachtung so wenig, welche im<lb/>
Süden und Westen Deutschlands seit jener Audienzstunde in Berlin gegen sie em¬<lb/>
porquillt? Oder glaubt sie, daß die finsteren Stirnen und zornigen Blicke nur</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0292] gewagten Schritt zum andern, auf die Abberufung der Frankfurter Deputirten wird schnell die rechtswidrige Veränderung des preußischen Wahlgesetzes, auf jede Weigerung eines Bezirkes, nach dem neuen Wahlgesetz zu wählen, werden neue Willkürlichkeiten solgen müssen, und wieder auf jeden Widerstand der neuen Kam¬ mern neue Beschränkungen der Verfassung und der gesetzlichen Freiheit, die Presse wird lästig und unter tüchtige Controle gesetzt, die politischen Vereine werden verboten; eins folgt aus dem andern, und dieselben Männer, die sich als Helfer mit den Kronen verbanden, ehrlich und mit erträglich liberalen Empfindungen, um ihr aus dieser Verlegenheit zu helfen, werden sich und die Krone bis zu einem Punkt der Tyrannei führen, vor dem sie jetzt selbst erschrecken würden. Denkt daran, auch Graf Stadion vou Oestreich war ein ehrlicher und „liberaler" Mann, als er vor einem halben Jahr übernahm, den Kaiserstaat zu retten und wohin ist er gedrängt worden? Der Staat in die Hände der Russen, er selbst in traurige Geistesschwache. Vielleicht ist die Kraft der preußischen Minister dauerhafter, aber schon jetzt sind sie von der octroyirten Verfassung durch alle möglichen Gesetze und Gesetzentwürfe, die Wenige zu lesen, noch wenigere zu befolgen Lust haben, bis zur Aenderung des Wahlgesetzes, also der Verfassung, die sie selbst publicirt haben, gekommen. Aendern sie eigenmächtig das Wahlgesetz etwa durch neue Interpre¬ tation des Wortes „selbstständig", so sind sie bereits jetzt Verbrecher gegen das von ihnen selbst octrvyirte Verfassnngsgesetz. Die Gesandten der königlichen Höfe sind jetzt in Berlin versammelt, die Reichsverfassung zu revidiren, diese revidirte Verfassung soll octroyirt werden und die Anhänger der Krone hoffen dadurch alle billigen Forderungen zu befriedigen. Auch das ist eine verhängnißvolle Täuschung. Es ist möglich, daß die so revidirte Verfassung in einzelnen Punkten praktischer wird; ja es ist möglich — obwohl wir das sehr bezweifeln — daß sie von unserem Standpunkt aus im Gan¬ zen besser wird, als die Verfassung der Paulskirche. Alles das kommt jetzt gar nicht mehr in Betracht; die Berliner Verfassung und sei sie ein Meisterstück hat grade so viel Berechtigung, als eine andere, die z. B. die Märzvereine dem deutschen Volk octroyiren könnten, sie ist eine ministerielle Stilübung, denn sie ist nicht nach Recht gemacht. Dreißig Staaten haben die Frankfurter Ver¬ fassung anerkannt, mit welcher Stirn kann die preußische Regierung ihre unge¬ setzliche Arbeit diesen aufdrängen wollen? sie hat auch uicht den kleinsten Rechts¬ titel dafür. Ihr einziges Recht ist — Gewalt. Gutwillig werden sehr wenige der dreißig Verbündeten die octrvyirte Verfassung annehmen, und wenn die Re¬ genten es wollten, sie dürfen es nicht wagen, ohne wortbrüchig zu werden und die Rache der empörten Völker auf sich zu laden. Und kennt die preußische Re¬ gierung den tiefen Haß, das Mißtrauen, ja die Verachtung so wenig, welche im Süden und Westen Deutschlands seit jener Audienzstunde in Berlin gegen sie em¬ porquillt? Oder glaubt sie, daß die finsteren Stirnen und zornigen Blicke nur

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/292
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/292>, abgerufen am 15.01.2025.