Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.Ein Blick auf nordamerikanische Zustände. War je in der Geschichte einem Volke die republikanische Verfassung zusagend, So entstand ans einer Anzahl von Niederlassungen und Kolonien ein Frei¬ Wer auf das Urtheil der bewährtesten Schriftsteller über Nordamerika und Ein Blick auf nordamerikanische Zustände. War je in der Geschichte einem Volke die republikanische Verfassung zusagend, So entstand ans einer Anzahl von Niederlassungen und Kolonien ein Frei¬ Wer auf das Urtheil der bewährtesten Schriftsteller über Nordamerika und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0188" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278698"/> </div> </div> <div n="1"> <head> Ein Blick auf nordamerikanische Zustände.</head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_557"> War je in der Geschichte einem Volke die republikanische Verfassung zusagend,<lb/> so waren es die Europäer, welche sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts im<lb/> nördlichen Theile Amerikas angesiedelt hatten. Fast aus lauter Handelsleuten und<lb/> Gewerbsgenossen bestehend, bildeten sie eine homogene Masse, die nachdem sie die<lb/> ursprünglichen Bewohner immer mehr und mehr in das Innere und nach den west¬<lb/> lichen Küsten zurückgedrängt, ja sich endlich von den Fesseln des Mutterlandes<lb/> befreit hatte, den viel schwierigern Kampf mit bestandenen Rechten, Privilegien,<lb/> Sitten, Gebräuchen und Vorurtheilen eiuer frühern Geschichte nicht zu bestehen<lb/> brauchte, einen Kampf, der in Europa nur mit der Vernichtung eiuer der Par¬<lb/> teien zu beenden sein würde. Und so war es denn natürlich, daß diese meist<lb/> aus dem englischen Volke entsprossenen Ansiedler sich eine ganz volksthümliche Ver¬<lb/> fassung gaben und weder Fürsten noch Adel, noch Majorate, noch eine reichbe¬<lb/> gabte Hierarchie, noch theuere Sinecuren bei sich ciuschten. Hierzu kam, daß wie<lb/> es in Zeiten allgemeiner Bewegung und der Revolutionen häufig zu geschehen<lb/> pflegt, Männer von außerordentlicher Begabung unter ihnen aufstanden, welche<lb/> durch zeitgemäße Gesetze und Einrichtungen das Wohl des jungen Staates<lb/> gründeten.</p><lb/> <p xml:id="ID_558"> So entstand ans einer Anzahl von Niederlassungen und Kolonien ein Frei¬<lb/> staat, welcher in etwas mehr als einem halben Jahrhundert zu einer Macht und<lb/> Bedeutung heranwuchs, wie die neuere Geschichte kein ähnliches Beispiel aufzu¬<lb/> weisen hat. Wer hätte demselben nicht die schönste Zukunft prophezeien sollen?<lb/> Und doch haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt, wenn man das Wohl eines<lb/> Staates nicht blos nach seinem materiellen Wohlstande abmißt, sondern anch den<lb/> sittlichen Zustand seiner Bevölkerung und ihrer Bildung in's Auge faßt.</p><lb/> <p xml:id="ID_559"> Wer auf das Urtheil der bewährtesten Schriftsteller über Nordamerika und<lb/> dortige Zustände, als Marryat, Boz, Raumer. Gerstäcker und in neuester Zeit<lb/> Ziegler und Naumann etwas gibt, wird nicht leugnen können, daß aus ihren<lb/> Schilderungen dortiger Zustände eine Demoralisation des Volks und zwar nicht<lb/> der untersten Stände allein, hervortritt, wie solche in europäischen Staaten, als<lb/> aus Mißbräuchen aller Art, aus voreuthaltner bürgerlicher und politischer Frei¬<lb/> heit, aus Übervölkerung und Pauperismus hervorgegangen zu erklären, in einem<lb/> so jungen Staate aber immer eine auffallende und betrübende Erscheinung ist.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0188]
Ein Blick auf nordamerikanische Zustände.
War je in der Geschichte einem Volke die republikanische Verfassung zusagend,
so waren es die Europäer, welche sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts im
nördlichen Theile Amerikas angesiedelt hatten. Fast aus lauter Handelsleuten und
Gewerbsgenossen bestehend, bildeten sie eine homogene Masse, die nachdem sie die
ursprünglichen Bewohner immer mehr und mehr in das Innere und nach den west¬
lichen Küsten zurückgedrängt, ja sich endlich von den Fesseln des Mutterlandes
befreit hatte, den viel schwierigern Kampf mit bestandenen Rechten, Privilegien,
Sitten, Gebräuchen und Vorurtheilen eiuer frühern Geschichte nicht zu bestehen
brauchte, einen Kampf, der in Europa nur mit der Vernichtung eiuer der Par¬
teien zu beenden sein würde. Und so war es denn natürlich, daß diese meist
aus dem englischen Volke entsprossenen Ansiedler sich eine ganz volksthümliche Ver¬
fassung gaben und weder Fürsten noch Adel, noch Majorate, noch eine reichbe¬
gabte Hierarchie, noch theuere Sinecuren bei sich ciuschten. Hierzu kam, daß wie
es in Zeiten allgemeiner Bewegung und der Revolutionen häufig zu geschehen
pflegt, Männer von außerordentlicher Begabung unter ihnen aufstanden, welche
durch zeitgemäße Gesetze und Einrichtungen das Wohl des jungen Staates
gründeten.
So entstand ans einer Anzahl von Niederlassungen und Kolonien ein Frei¬
staat, welcher in etwas mehr als einem halben Jahrhundert zu einer Macht und
Bedeutung heranwuchs, wie die neuere Geschichte kein ähnliches Beispiel aufzu¬
weisen hat. Wer hätte demselben nicht die schönste Zukunft prophezeien sollen?
Und doch haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt, wenn man das Wohl eines
Staates nicht blos nach seinem materiellen Wohlstande abmißt, sondern anch den
sittlichen Zustand seiner Bevölkerung und ihrer Bildung in's Auge faßt.
Wer auf das Urtheil der bewährtesten Schriftsteller über Nordamerika und
dortige Zustände, als Marryat, Boz, Raumer. Gerstäcker und in neuester Zeit
Ziegler und Naumann etwas gibt, wird nicht leugnen können, daß aus ihren
Schilderungen dortiger Zustände eine Demoralisation des Volks und zwar nicht
der untersten Stände allein, hervortritt, wie solche in europäischen Staaten, als
aus Mißbräuchen aller Art, aus voreuthaltner bürgerlicher und politischer Frei¬
heit, aus Übervölkerung und Pauperismus hervorgegangen zu erklären, in einem
so jungen Staate aber immer eine auffallende und betrübende Erscheinung ist.
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