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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Phischen und philologischen Studien. Nachdem er sich der Mathematik ganz zu¬
gewendet hatte, errang er unglaublich schnelle Lorbeeren. 1824 habilitirte er sich
als Privatdocent in Berlin, 1827 erhielt er in Königsberg eine außerordentliche,
1829 eine ordentliche Professur der Mathematik. Durch das Zusammenwirken von
ihm, Bessel und Neumann wurde die Königsberger Universität der Hauptsitz der
Mathematik in Deutschland. Fast um dieselbe Zeit wurden dieser Anstalt ihre
ersten Koryphäen entrissen, durch den Tod Bessel's und durch die Ernennung Ja-
cobi's zum ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie. -- Die Mathematik be¬
findet sich in dieses Augenblick noch nicht auf dem Punkte der Entwickelung, wo
das Material erschöpft ist und es sich um die formale Abrundung, um die syste¬
matische Gliederung handelt. Vielmehr sind gerade in neuerer Zeit ganz neue
Gebiete entdeckt, neue Wege eröffnet worden, und die Bemühungen der größsten
Mathematiker siud dahin gerichtet, den Blick in die Zahlen- und Formelnwelt im¬
mer weiter auszudehnen, den schon gemachten Eroberungen neue und kühnere hinzu¬
zufügen. Zu dieser Richtung gehört auch Jacobi. Seine Vorlesungen haben in
der Regel einen sehr schwierigen Inhalt. Er überläßt sich ganz seinem Genius,
beginnt mit leichten und einfachen Deduktionen und befindet sich plötzlich auf einem
Gebiet, wohin ihm nur der kleinere Theil folgen kann. Er selbst hat die ver-
wickelsten Formen mit bewundernswürdiger Klarheit in seinem Kopfe und braucht
keine Tafel, um mit ihnen zu rechnen; seine Zuhörer sitzen versteinert da und brin¬
gen oft nichts Anderes nach Hanse, als das Gefühl ihrer Unbedeutenden. Dieser
Nachtheil ist, wie ich glaube, nicht hoch anzuschlagen. Fast in allen Wissenschaften,
namentlich aber in der Mathematik, läßt sich das Positive ans Büchern erwerben.
Soll der Uuiversitätsunterricht einen Zweck haben, so muß er in den Händen von
Männern sein, die durch das Hervorragende ihrer Persönlichkeit, durch die indi¬
viduelle Form, in der sie ihr Wisse" geben, auf die Studirenden wirken. Die
wendige Thätigkeit eines großen Geistes belausche" zu können, tausendmal
^nchtbriugcnder, als ewige Formeln' mehr zu wissen. -- Es gibt viele Ge¬
ehrte, die kein Interesse haben an der unmittelbaren Belebung ihres Wissens durch
Unterricht; zu ihnen gehört Jacobi nicht. In Königsberg gründete er mit Ncu-
Mann gemeinschaftlich ein mathematisch-physikalisches Seminar; in Berlin hält er
unausgesetzt Vorlesungen, obgleich er als Mitglied der Akademie nicht dazu ver¬
nichtet ist. Nur freilich darf man nicht von ihm voraussetze", daß er sich da--
d"res gebunden fühle. In Königsberg kündigte er einmal absichtlich eine so schwie¬
ge Vorlesung an, daß sich nur Wenige dazu meldeten, und diesen Wenigen rieth
^ dann wegen der Schwierigkeit des Gegenstandes ab, daran Theil zu nehmen.
^' macht überhaupt den Eindruck, als ob er sich uicht leicht zu etwas zwinge.

Interessant war es, Jacobi vom Katheder auf die Tribünen der Clubs stei¬
gen zu sehen. Warum sollte Deutschland nicht auch seine Arago's und Bailly's
)"ben? Er hätte freilich schon längst Gelegenheit dazu gehabt, denn in Königs-


Phischen und philologischen Studien. Nachdem er sich der Mathematik ganz zu¬
gewendet hatte, errang er unglaublich schnelle Lorbeeren. 1824 habilitirte er sich
als Privatdocent in Berlin, 1827 erhielt er in Königsberg eine außerordentliche,
1829 eine ordentliche Professur der Mathematik. Durch das Zusammenwirken von
ihm, Bessel und Neumann wurde die Königsberger Universität der Hauptsitz der
Mathematik in Deutschland. Fast um dieselbe Zeit wurden dieser Anstalt ihre
ersten Koryphäen entrissen, durch den Tod Bessel's und durch die Ernennung Ja-
cobi's zum ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie. — Die Mathematik be¬
findet sich in dieses Augenblick noch nicht auf dem Punkte der Entwickelung, wo
das Material erschöpft ist und es sich um die formale Abrundung, um die syste¬
matische Gliederung handelt. Vielmehr sind gerade in neuerer Zeit ganz neue
Gebiete entdeckt, neue Wege eröffnet worden, und die Bemühungen der größsten
Mathematiker siud dahin gerichtet, den Blick in die Zahlen- und Formelnwelt im¬
mer weiter auszudehnen, den schon gemachten Eroberungen neue und kühnere hinzu¬
zufügen. Zu dieser Richtung gehört auch Jacobi. Seine Vorlesungen haben in
der Regel einen sehr schwierigen Inhalt. Er überläßt sich ganz seinem Genius,
beginnt mit leichten und einfachen Deduktionen und befindet sich plötzlich auf einem
Gebiet, wohin ihm nur der kleinere Theil folgen kann. Er selbst hat die ver-
wickelsten Formen mit bewundernswürdiger Klarheit in seinem Kopfe und braucht
keine Tafel, um mit ihnen zu rechnen; seine Zuhörer sitzen versteinert da und brin¬
gen oft nichts Anderes nach Hanse, als das Gefühl ihrer Unbedeutenden. Dieser
Nachtheil ist, wie ich glaube, nicht hoch anzuschlagen. Fast in allen Wissenschaften,
namentlich aber in der Mathematik, läßt sich das Positive ans Büchern erwerben.
Soll der Uuiversitätsunterricht einen Zweck haben, so muß er in den Händen von
Männern sein, die durch das Hervorragende ihrer Persönlichkeit, durch die indi¬
viduelle Form, in der sie ihr Wisse» geben, auf die Studirenden wirken. Die
wendige Thätigkeit eines großen Geistes belausche» zu können, tausendmal
^nchtbriugcnder, als ewige Formeln' mehr zu wissen. — Es gibt viele Ge¬
ehrte, die kein Interesse haben an der unmittelbaren Belebung ihres Wissens durch
Unterricht; zu ihnen gehört Jacobi nicht. In Königsberg gründete er mit Ncu-
Mann gemeinschaftlich ein mathematisch-physikalisches Seminar; in Berlin hält er
unausgesetzt Vorlesungen, obgleich er als Mitglied der Akademie nicht dazu ver¬
nichtet ist. Nur freilich darf man nicht von ihm voraussetze«, daß er sich da--
d"res gebunden fühle. In Königsberg kündigte er einmal absichtlich eine so schwie¬
ge Vorlesung an, daß sich nur Wenige dazu meldeten, und diesen Wenigen rieth
^ dann wegen der Schwierigkeit des Gegenstandes ab, daran Theil zu nehmen.
^' macht überhaupt den Eindruck, als ob er sich uicht leicht zu etwas zwinge.

Interessant war es, Jacobi vom Katheder auf die Tribünen der Clubs stei¬
gen zu sehen. Warum sollte Deutschland nicht auch seine Arago's und Bailly's
)"ben? Er hätte freilich schon längst Gelegenheit dazu gehabt, denn in Königs-


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[0181] Phischen und philologischen Studien. Nachdem er sich der Mathematik ganz zu¬ gewendet hatte, errang er unglaublich schnelle Lorbeeren. 1824 habilitirte er sich als Privatdocent in Berlin, 1827 erhielt er in Königsberg eine außerordentliche, 1829 eine ordentliche Professur der Mathematik. Durch das Zusammenwirken von ihm, Bessel und Neumann wurde die Königsberger Universität der Hauptsitz der Mathematik in Deutschland. Fast um dieselbe Zeit wurden dieser Anstalt ihre ersten Koryphäen entrissen, durch den Tod Bessel's und durch die Ernennung Ja- cobi's zum ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie. — Die Mathematik be¬ findet sich in dieses Augenblick noch nicht auf dem Punkte der Entwickelung, wo das Material erschöpft ist und es sich um die formale Abrundung, um die syste¬ matische Gliederung handelt. Vielmehr sind gerade in neuerer Zeit ganz neue Gebiete entdeckt, neue Wege eröffnet worden, und die Bemühungen der größsten Mathematiker siud dahin gerichtet, den Blick in die Zahlen- und Formelnwelt im¬ mer weiter auszudehnen, den schon gemachten Eroberungen neue und kühnere hinzu¬ zufügen. Zu dieser Richtung gehört auch Jacobi. Seine Vorlesungen haben in der Regel einen sehr schwierigen Inhalt. Er überläßt sich ganz seinem Genius, beginnt mit leichten und einfachen Deduktionen und befindet sich plötzlich auf einem Gebiet, wohin ihm nur der kleinere Theil folgen kann. Er selbst hat die ver- wickelsten Formen mit bewundernswürdiger Klarheit in seinem Kopfe und braucht keine Tafel, um mit ihnen zu rechnen; seine Zuhörer sitzen versteinert da und brin¬ gen oft nichts Anderes nach Hanse, als das Gefühl ihrer Unbedeutenden. Dieser Nachtheil ist, wie ich glaube, nicht hoch anzuschlagen. Fast in allen Wissenschaften, namentlich aber in der Mathematik, läßt sich das Positive ans Büchern erwerben. Soll der Uuiversitätsunterricht einen Zweck haben, so muß er in den Händen von Männern sein, die durch das Hervorragende ihrer Persönlichkeit, durch die indi¬ viduelle Form, in der sie ihr Wisse» geben, auf die Studirenden wirken. Die wendige Thätigkeit eines großen Geistes belausche» zu können, tausendmal ^nchtbriugcnder, als ewige Formeln' mehr zu wissen. — Es gibt viele Ge¬ ehrte, die kein Interesse haben an der unmittelbaren Belebung ihres Wissens durch Unterricht; zu ihnen gehört Jacobi nicht. In Königsberg gründete er mit Ncu- Mann gemeinschaftlich ein mathematisch-physikalisches Seminar; in Berlin hält er unausgesetzt Vorlesungen, obgleich er als Mitglied der Akademie nicht dazu ver¬ nichtet ist. Nur freilich darf man nicht von ihm voraussetze«, daß er sich da-- d"res gebunden fühle. In Königsberg kündigte er einmal absichtlich eine so schwie¬ ge Vorlesung an, daß sich nur Wenige dazu meldeten, und diesen Wenigen rieth ^ dann wegen der Schwierigkeit des Gegenstandes ab, daran Theil zu nehmen. ^' macht überhaupt den Eindruck, als ob er sich uicht leicht zu etwas zwinge. Interessant war es, Jacobi vom Katheder auf die Tribünen der Clubs stei¬ gen zu sehen. Warum sollte Deutschland nicht auch seine Arago's und Bailly's )"ben? Er hätte freilich schon längst Gelegenheit dazu gehabt, denn in Königs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/181>, abgerufen am 15.01.2025.