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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Rolle spielten, haben die allgemeine Theilnahme verloren, seitdem das Proletariat
auf den Straßen Trauerspiele aufgeführt hat, und die berechtigten Klagen der ar¬
beitenden Klasse zu politischen Forderungen geworden sind. -- Wenn man auf
solche Weise das Bedürfniß der dramatischen Kunst festsetzen will, muß man nicht
vergessen, daß ein großer Unterschied ist zwischen einer Forderung, welche man
stellt und der Erfüllung derselben durch die vorhandenen Dichterkräste. Wir dür¬
fen sagen: diese oder jene Richtung thut uus Noth, aber ob sich eine geniale
Kraft finden wird, die Forderung in That umzusetzen, daS läßt sich natürlich
nicht voraus bestimmen. Wenn auch die Tragödie in einfachen großen Formen
die stille Sehnsucht des kunstliebenden Publikums ist, so muß die Aufregung der
Gegenwart außerdem in andern Gattungen des Schauspiels sich ausdrücken; und wie
wir aus einzelnen Beispielen schon jetzt sehn, nicht grade zum Vortheil für die
Kunst. Eine große Menge der deutschen Zuschauer verlangt von den Theatern jetzt
Darstellung dessen, was ihm im Gedränge des Marktes verloren gegangen ist;
die gemüthliche Behaglichkeit des Familienstücks und burleske Scherze, in denen
es sich durch Lachen beruhigen kann. Daneben kommen wilde Spectakelstücke zur
Geltung, welche die Schauerscenen der Wirklichkeit zu copiren suchen. In diesen
drei Richtungen droht der Kunst Verwilderung. Ob diese in drohendem Maße
zunimmt, das wird davon abhängen, ob Deutschland in Kurzem zu staatlicher Kraft
erstarkt oder nicht. Gegenwärtig hat das deutsche Theater nicht nur über leere
Häuser, sondern auch über Mangel an Productivität seiner Dichter zu klagen.

Die darstellenden Künste des Theaters sind abhängig von der Dichterkraft
einer Periode, noch mehr von dem Styl der Volksbildung. Die Universalität der
humanen Bildung, welche seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in die Mit?
telclassen gekommen ist, hat die Schauspielkunst bis jetzt nicht gefordert; diese hat
dnrch die ungeheure Masse fremder literarischer Erzeugnisse, welche unser Theater
überschwemmten, an Sicherheit und Wahrheit verloren und ist gegenwärtig nicht
viel mehr als ein Schatten früherer Größe. Ihr Verderben begann schon mit und
durch Goethe und die Weiniarische Schule. Die Romantiker, Kotzebue, die jün-
gern geistreichen und Anecdoleudichter haben nichts gethan ihr das zu geben, was
sie am nöthigsten hatte, einen Styl. Die Vermischung aller Gattung des Schau¬
spiels aus einer Bühne, die Verbindung mit der Oper, unförmliche Schauspiel¬
häuser nud die falsche Stellung der Bühnen zur Nation haben den Ruin vollendet.
Der Schauspieler soll daS allgemein Menschliche in geschlossenem Charakter zur Er¬
scheinung bringen, aber er kann es nur empfinden in den Formen und uach der
Bildung seiner Zeit. In Haltung, Geberde, Betonung wird er stets das Wesen
seiner Zeit reproduciren, und nur in dieser Beschränkung wird es gelingen, die
ewig gellende, künstlerische Wahrheit wieder zu geben. Wenn nun eine Zeit wie
unsie Vergangenheit, an ihrem eigenen Inhalt sich nicht befriedigen kann, werden
auch die Formen, die Erscheinung der Individuen haltlos und unbefriedigend,


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Rolle spielten, haben die allgemeine Theilnahme verloren, seitdem das Proletariat
auf den Straßen Trauerspiele aufgeführt hat, und die berechtigten Klagen der ar¬
beitenden Klasse zu politischen Forderungen geworden sind. — Wenn man auf
solche Weise das Bedürfniß der dramatischen Kunst festsetzen will, muß man nicht
vergessen, daß ein großer Unterschied ist zwischen einer Forderung, welche man
stellt und der Erfüllung derselben durch die vorhandenen Dichterkräste. Wir dür¬
fen sagen: diese oder jene Richtung thut uus Noth, aber ob sich eine geniale
Kraft finden wird, die Forderung in That umzusetzen, daS läßt sich natürlich
nicht voraus bestimmen. Wenn auch die Tragödie in einfachen großen Formen
die stille Sehnsucht des kunstliebenden Publikums ist, so muß die Aufregung der
Gegenwart außerdem in andern Gattungen des Schauspiels sich ausdrücken; und wie
wir aus einzelnen Beispielen schon jetzt sehn, nicht grade zum Vortheil für die
Kunst. Eine große Menge der deutschen Zuschauer verlangt von den Theatern jetzt
Darstellung dessen, was ihm im Gedränge des Marktes verloren gegangen ist;
die gemüthliche Behaglichkeit des Familienstücks und burleske Scherze, in denen
es sich durch Lachen beruhigen kann. Daneben kommen wilde Spectakelstücke zur
Geltung, welche die Schauerscenen der Wirklichkeit zu copiren suchen. In diesen
drei Richtungen droht der Kunst Verwilderung. Ob diese in drohendem Maße
zunimmt, das wird davon abhängen, ob Deutschland in Kurzem zu staatlicher Kraft
erstarkt oder nicht. Gegenwärtig hat das deutsche Theater nicht nur über leere
Häuser, sondern auch über Mangel an Productivität seiner Dichter zu klagen.

Die darstellenden Künste des Theaters sind abhängig von der Dichterkraft
einer Periode, noch mehr von dem Styl der Volksbildung. Die Universalität der
humanen Bildung, welche seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in die Mit?
telclassen gekommen ist, hat die Schauspielkunst bis jetzt nicht gefordert; diese hat
dnrch die ungeheure Masse fremder literarischer Erzeugnisse, welche unser Theater
überschwemmten, an Sicherheit und Wahrheit verloren und ist gegenwärtig nicht
viel mehr als ein Schatten früherer Größe. Ihr Verderben begann schon mit und
durch Goethe und die Weiniarische Schule. Die Romantiker, Kotzebue, die jün-
gern geistreichen und Anecdoleudichter haben nichts gethan ihr das zu geben, was
sie am nöthigsten hatte, einen Styl. Die Vermischung aller Gattung des Schau¬
spiels aus einer Bühne, die Verbindung mit der Oper, unförmliche Schauspiel¬
häuser nud die falsche Stellung der Bühnen zur Nation haben den Ruin vollendet.
Der Schauspieler soll daS allgemein Menschliche in geschlossenem Charakter zur Er¬
scheinung bringen, aber er kann es nur empfinden in den Formen und uach der
Bildung seiner Zeit. In Haltung, Geberde, Betonung wird er stets das Wesen
seiner Zeit reproduciren, und nur in dieser Beschränkung wird es gelingen, die
ewig gellende, künstlerische Wahrheit wieder zu geben. Wenn nun eine Zeit wie
unsie Vergangenheit, an ihrem eigenen Inhalt sich nicht befriedigen kann, werden
auch die Formen, die Erscheinung der Individuen haltlos und unbefriedigend,


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[0427] Rolle spielten, haben die allgemeine Theilnahme verloren, seitdem das Proletariat auf den Straßen Trauerspiele aufgeführt hat, und die berechtigten Klagen der ar¬ beitenden Klasse zu politischen Forderungen geworden sind. — Wenn man auf solche Weise das Bedürfniß der dramatischen Kunst festsetzen will, muß man nicht vergessen, daß ein großer Unterschied ist zwischen einer Forderung, welche man stellt und der Erfüllung derselben durch die vorhandenen Dichterkräste. Wir dür¬ fen sagen: diese oder jene Richtung thut uus Noth, aber ob sich eine geniale Kraft finden wird, die Forderung in That umzusetzen, daS läßt sich natürlich nicht voraus bestimmen. Wenn auch die Tragödie in einfachen großen Formen die stille Sehnsucht des kunstliebenden Publikums ist, so muß die Aufregung der Gegenwart außerdem in andern Gattungen des Schauspiels sich ausdrücken; und wie wir aus einzelnen Beispielen schon jetzt sehn, nicht grade zum Vortheil für die Kunst. Eine große Menge der deutschen Zuschauer verlangt von den Theatern jetzt Darstellung dessen, was ihm im Gedränge des Marktes verloren gegangen ist; die gemüthliche Behaglichkeit des Familienstücks und burleske Scherze, in denen es sich durch Lachen beruhigen kann. Daneben kommen wilde Spectakelstücke zur Geltung, welche die Schauerscenen der Wirklichkeit zu copiren suchen. In diesen drei Richtungen droht der Kunst Verwilderung. Ob diese in drohendem Maße zunimmt, das wird davon abhängen, ob Deutschland in Kurzem zu staatlicher Kraft erstarkt oder nicht. Gegenwärtig hat das deutsche Theater nicht nur über leere Häuser, sondern auch über Mangel an Productivität seiner Dichter zu klagen. Die darstellenden Künste des Theaters sind abhängig von der Dichterkraft einer Periode, noch mehr von dem Styl der Volksbildung. Die Universalität der humanen Bildung, welche seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in die Mit? telclassen gekommen ist, hat die Schauspielkunst bis jetzt nicht gefordert; diese hat dnrch die ungeheure Masse fremder literarischer Erzeugnisse, welche unser Theater überschwemmten, an Sicherheit und Wahrheit verloren und ist gegenwärtig nicht viel mehr als ein Schatten früherer Größe. Ihr Verderben begann schon mit und durch Goethe und die Weiniarische Schule. Die Romantiker, Kotzebue, die jün- gern geistreichen und Anecdoleudichter haben nichts gethan ihr das zu geben, was sie am nöthigsten hatte, einen Styl. Die Vermischung aller Gattung des Schau¬ spiels aus einer Bühne, die Verbindung mit der Oper, unförmliche Schauspiel¬ häuser nud die falsche Stellung der Bühnen zur Nation haben den Ruin vollendet. Der Schauspieler soll daS allgemein Menschliche in geschlossenem Charakter zur Er¬ scheinung bringen, aber er kann es nur empfinden in den Formen und uach der Bildung seiner Zeit. In Haltung, Geberde, Betonung wird er stets das Wesen seiner Zeit reproduciren, und nur in dieser Beschränkung wird es gelingen, die ewig gellende, künstlerische Wahrheit wieder zu geben. Wenn nun eine Zeit wie unsie Vergangenheit, an ihrem eigenen Inhalt sich nicht befriedigen kann, werden auch die Formen, die Erscheinung der Individuen haltlos und unbefriedigend, S3*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/427>, abgerufen am 23.07.2024.