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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Staat gesündigt worden; die improvisirte bewaffnete Widersetzlichkeit gegen be¬
rechtigte Regierungsbefehle, der Mord Latour's und die Kriegsrüstungen der
Stadt waren eben so verbrecherisch, als sie abenteuerlich waren. Die Schwäche
des Reichstags that sehr wenig, den Wienern ein Verbrechen zu ersparen und
die Krisis abzuwenden. Ein strenges Regiment war nöthig, das den Verblendeten
die Augen öffnete, aber kein gemeines Henkertribnnal, welches vier Monate lang
durch fortgesetztes Erschießen und kriegsrechtliches Urtheil die Aufregung nicht be¬
schwichtigte, sondern vermehrte. Hätte man das Standrecht ans die Mörder La¬
tour's beschränkt lind dem Belagerungszustand mildere Formen gegeben, der Kaiser¬
staat hätte jetzt mehr Garantien der Dauer und Kraft.

Wir haben nicht nöthig, den Vergleich mit Preußen zu scheuen, noch weniger
haben wir Lust, ihm den Vorzug einer größeren Festigkeit einzuräumen; das aber
darf nicht geleugnet werden, daß in Berlin, welches wie Wien unter dem Martial-
gesetz steht, diese drückende und gefährliche Sichcrheitsmaßregel ganz anders ge¬
handhabt wird. Man sage nicht, daß dort die Verhältnisse anders, die zu süh¬
nende Schuld und der politische Scandal geringer gewesen seien. Ein Kriegs¬
minister ist allndiugs nicht ermordet worden, aber der demagogische Unverstand
war in Berlin weit größer als in Wien; er war wüster, radicaler, pfiffiger und
raffuiirtcr. Vielleicht war er eben deshalb weniger ansteckend, als der Wiener,
jedenfalls war er feiger und weniger ehrlich, als die blinde Leidenschaftlichkeit
unseres Octobers. Aber weniger gefährlich war er nicht; die rothe Republik,
der Krieg gegen Alles, was Geltung und Kraft hat, war ein Stichwort deS
Tages, es gab wenig Verrücktheiten, die dort nicht offen und frech gepredigt und
geglaubt worden sind. Berlin war mit viel ärgerer Krankheit behaftet, als Wien;
und die Fieberhitze war bei uns nur deshalb größer, weil unser Leib robuster
und gesünder ist. Und vergleicht den Belagcrungsstand von Wien und Berlin,
Melden und Wrangel, zwei W, aber wie verschieden! Während man in Berlin
mit witziger Ungezogenheit den alten Zwingherrn neckt und ärgert, bis endlich
beide Parteien, Belagerer und Belagerte, zu lachen anfangen, erwartet Wien jeden
Morgen eine neue tödtliche Begnadigung in der Zeitung zu lesen.

Wahrlich, was die Negierung an Wien thut, ist nicht wohl gethan, und eS
wird Pflicht jedes ehrlichen Patrioten, dagegen mit Entschiedenheit aufzutreten.
Bei unseren Verhältnissen gibt es leider nnr ein Maß und Gesetz für solche Ncgie-
rungöuiaßregeln, das der Zweckmäßigkeit und des Nutzens. Und wir wollten uus
viel gefallen lassen, wenn es für das Ganze zweckmäßig wäre und nützte. Der
Belagerungszustand von Wien aber ist gegenwärtig bereits ein Unglück für die
Stadt und verderblich für den Staat geworden. Ich will nicht anführen, daß
gerade die gutgesinnten Wiener am schwersten dadurch getroffen werden, daß In¬
solvenz und Bankrotte in nächster Zukunft massenhaft erscheinen müssen, daß
selbst den Staatsfinanzen der Steuerausfall sehr empfindlich sein müßte, wenn e"


Staat gesündigt worden; die improvisirte bewaffnete Widersetzlichkeit gegen be¬
rechtigte Regierungsbefehle, der Mord Latour's und die Kriegsrüstungen der
Stadt waren eben so verbrecherisch, als sie abenteuerlich waren. Die Schwäche
des Reichstags that sehr wenig, den Wienern ein Verbrechen zu ersparen und
die Krisis abzuwenden. Ein strenges Regiment war nöthig, das den Verblendeten
die Augen öffnete, aber kein gemeines Henkertribnnal, welches vier Monate lang
durch fortgesetztes Erschießen und kriegsrechtliches Urtheil die Aufregung nicht be¬
schwichtigte, sondern vermehrte. Hätte man das Standrecht ans die Mörder La¬
tour's beschränkt lind dem Belagerungszustand mildere Formen gegeben, der Kaiser¬
staat hätte jetzt mehr Garantien der Dauer und Kraft.

Wir haben nicht nöthig, den Vergleich mit Preußen zu scheuen, noch weniger
haben wir Lust, ihm den Vorzug einer größeren Festigkeit einzuräumen; das aber
darf nicht geleugnet werden, daß in Berlin, welches wie Wien unter dem Martial-
gesetz steht, diese drückende und gefährliche Sichcrheitsmaßregel ganz anders ge¬
handhabt wird. Man sage nicht, daß dort die Verhältnisse anders, die zu süh¬
nende Schuld und der politische Scandal geringer gewesen seien. Ein Kriegs¬
minister ist allndiugs nicht ermordet worden, aber der demagogische Unverstand
war in Berlin weit größer als in Wien; er war wüster, radicaler, pfiffiger und
raffuiirtcr. Vielleicht war er eben deshalb weniger ansteckend, als der Wiener,
jedenfalls war er feiger und weniger ehrlich, als die blinde Leidenschaftlichkeit
unseres Octobers. Aber weniger gefährlich war er nicht; die rothe Republik,
der Krieg gegen Alles, was Geltung und Kraft hat, war ein Stichwort deS
Tages, es gab wenig Verrücktheiten, die dort nicht offen und frech gepredigt und
geglaubt worden sind. Berlin war mit viel ärgerer Krankheit behaftet, als Wien;
und die Fieberhitze war bei uns nur deshalb größer, weil unser Leib robuster
und gesünder ist. Und vergleicht den Belagcrungsstand von Wien und Berlin,
Melden und Wrangel, zwei W, aber wie verschieden! Während man in Berlin
mit witziger Ungezogenheit den alten Zwingherrn neckt und ärgert, bis endlich
beide Parteien, Belagerer und Belagerte, zu lachen anfangen, erwartet Wien jeden
Morgen eine neue tödtliche Begnadigung in der Zeitung zu lesen.

Wahrlich, was die Negierung an Wien thut, ist nicht wohl gethan, und eS
wird Pflicht jedes ehrlichen Patrioten, dagegen mit Entschiedenheit aufzutreten.
Bei unseren Verhältnissen gibt es leider nnr ein Maß und Gesetz für solche Ncgie-
rungöuiaßregeln, das der Zweckmäßigkeit und des Nutzens. Und wir wollten uus
viel gefallen lassen, wenn es für das Ganze zweckmäßig wäre und nützte. Der
Belagerungszustand von Wien aber ist gegenwärtig bereits ein Unglück für die
Stadt und verderblich für den Staat geworden. Ich will nicht anführen, daß
gerade die gutgesinnten Wiener am schwersten dadurch getroffen werden, daß In¬
solvenz und Bankrotte in nächster Zukunft massenhaft erscheinen müssen, daß
selbst den Staatsfinanzen der Steuerausfall sehr empfindlich sein müßte, wenn e»


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[0418] Staat gesündigt worden; die improvisirte bewaffnete Widersetzlichkeit gegen be¬ rechtigte Regierungsbefehle, der Mord Latour's und die Kriegsrüstungen der Stadt waren eben so verbrecherisch, als sie abenteuerlich waren. Die Schwäche des Reichstags that sehr wenig, den Wienern ein Verbrechen zu ersparen und die Krisis abzuwenden. Ein strenges Regiment war nöthig, das den Verblendeten die Augen öffnete, aber kein gemeines Henkertribnnal, welches vier Monate lang durch fortgesetztes Erschießen und kriegsrechtliches Urtheil die Aufregung nicht be¬ schwichtigte, sondern vermehrte. Hätte man das Standrecht ans die Mörder La¬ tour's beschränkt lind dem Belagerungszustand mildere Formen gegeben, der Kaiser¬ staat hätte jetzt mehr Garantien der Dauer und Kraft. Wir haben nicht nöthig, den Vergleich mit Preußen zu scheuen, noch weniger haben wir Lust, ihm den Vorzug einer größeren Festigkeit einzuräumen; das aber darf nicht geleugnet werden, daß in Berlin, welches wie Wien unter dem Martial- gesetz steht, diese drückende und gefährliche Sichcrheitsmaßregel ganz anders ge¬ handhabt wird. Man sage nicht, daß dort die Verhältnisse anders, die zu süh¬ nende Schuld und der politische Scandal geringer gewesen seien. Ein Kriegs¬ minister ist allndiugs nicht ermordet worden, aber der demagogische Unverstand war in Berlin weit größer als in Wien; er war wüster, radicaler, pfiffiger und raffuiirtcr. Vielleicht war er eben deshalb weniger ansteckend, als der Wiener, jedenfalls war er feiger und weniger ehrlich, als die blinde Leidenschaftlichkeit unseres Octobers. Aber weniger gefährlich war er nicht; die rothe Republik, der Krieg gegen Alles, was Geltung und Kraft hat, war ein Stichwort deS Tages, es gab wenig Verrücktheiten, die dort nicht offen und frech gepredigt und geglaubt worden sind. Berlin war mit viel ärgerer Krankheit behaftet, als Wien; und die Fieberhitze war bei uns nur deshalb größer, weil unser Leib robuster und gesünder ist. Und vergleicht den Belagcrungsstand von Wien und Berlin, Melden und Wrangel, zwei W, aber wie verschieden! Während man in Berlin mit witziger Ungezogenheit den alten Zwingherrn neckt und ärgert, bis endlich beide Parteien, Belagerer und Belagerte, zu lachen anfangen, erwartet Wien jeden Morgen eine neue tödtliche Begnadigung in der Zeitung zu lesen. Wahrlich, was die Negierung an Wien thut, ist nicht wohl gethan, und eS wird Pflicht jedes ehrlichen Patrioten, dagegen mit Entschiedenheit aufzutreten. Bei unseren Verhältnissen gibt es leider nnr ein Maß und Gesetz für solche Ncgie- rungöuiaßregeln, das der Zweckmäßigkeit und des Nutzens. Und wir wollten uus viel gefallen lassen, wenn es für das Ganze zweckmäßig wäre und nützte. Der Belagerungszustand von Wien aber ist gegenwärtig bereits ein Unglück für die Stadt und verderblich für den Staat geworden. Ich will nicht anführen, daß gerade die gutgesinnten Wiener am schwersten dadurch getroffen werden, daß In¬ solvenz und Bankrotte in nächster Zukunft massenhaft erscheinen müssen, daß selbst den Staatsfinanzen der Steuerausfall sehr empfindlich sein müßte, wenn e»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/418>, abgerufen am 22.12.2024.