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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Rechtsbewußtsein, an allem sichern Halt; es wird alles ex aequo et Kono abgeschätzt,
und dabei geht nur zu häufig das aePinm und das boiuim verloren. Von den eigent¬
lichen "Gutgesinnten" alten und neuen Datums will ich ganz schweigen; selbst Melden,
der in seinem allerdings nicht liebenswürdigen Genre wenigstens privatim ein ehrlicher,
offner alter Gesell und dabei ein drolliger Kauz ist, spricht trotz oder wegen ihres
unverschämten Katzenbuckelns häufig ganz unumwunden die ungeheuchelte Verachtung
aus, die er gegen sie empfindet. Wien ist in seinem gegenwärtigen Zustande nicht
der Ort, von dem aus man die Verhältnisse frei übersehen kann, aber ich fürchte,
Oestreich wird noch manche Krise durchmache" müssen, es wird noch manches Jahr in's
Land gehen, ehe die östreichische Charte eine Wahrheit werden kann. Man pflegt in
Deutschland wohl die Reformbestrebungen des Kaiser Joseph als aufgeklärten Despotis¬
mus mit einem Achselzucken abzufertigen; die das thun, zeigen, daß sie östreichische
Zustände nicht kennen, hätte Joseph zehn, zwanzig Jahre länger gelebt, es sähe um
Oestreich besser aus; ein festes, energisches, selbst schonungsloses Durchgreifen nach
beiden Seiten hin, ist hier durchaus nothwendig, aber freilich nicht zu Gunsten eines
rathlosen, willkürlichen Experimentirens, sondern eines bestimmten, consequent durchge¬
führten Princips. Ja, es läßt sich leider nicht in Abrede stellen, die östreichischen Zu¬
stände hinken auf beiden Seiten, sie sind durchaus unwahr und unhaltbar. Nehmen
Sie die erste beste Nummer der Wiener Zeitung zur Hand; dort finde" sie Todesur-
theile, die vielleicht eines unvorsichtigen Wortes wegen, ausgesprochen wurden, Gasscn-
laufen n. s. w. und ein paar Seiten darauf vielleicht die freilich verstümmelte Debatte
des Reichstags über die Abschaffung der Todesstrafe. Wie kann das auf das
Volksbewußtsein wirken, wenn Grundsätze der modernen Humanität und Cultur, die in
der Theorie anerkannt werden, i" der Praxis täglich ans die rohste Weise in's Gesicht
geschlagen werden? Es sitzen in dem östreichischen Reichstag gewiß viele ehrenwerthe
und tüchtige Männer, aber ich kann mir nicht helfen, wenn ich sie für Freiheit, Recht
und Wahrheit sprechen höre, so kommt es mir vor, als sagten sie ein eingelerntes
Pensum auf, an das sie selbst nicht recht glaube". -- Doch ich gerathe in Reflexionen,
erlaube" Sie nur noch, daß ich ein paar Worte hinzufüge, wie mau sich hier den Anschluß
an Deutschland denkt. Im Allgemeinen kaun man als Regel betrachten, daß die
Dcutschöstrcicher, die überhaupt politische Ncslcctiouen anstellen, in dem Anschluß an
Deutschland nur eine Verstärkung des deutschen Elements in Oestreich suchen, daher die
wahnsinnige Idee des großen Mittclreichcs, das nichts als ein Oestreich mit all seinen
Mängeln in vergrößertem Maßstabe sein würde. Die Vertheidiger des Mittclreichcs
weisen fortwährend triumphirend darauf hin, daß in ihm die Deutschen in entschiedener
Majorität sein würden. Als ob es sich für Deutschland darum handelte, fortwährend
gegen andere Völker mit Bangen um seine Existenz abzustimmen! Das Ärgerlichste
aber ist, daß die meisten Leute hier einen ganz besondern Gnadcuakt von Seiten Oest¬
reichs darin sehen, wenn es die Constituirung des übrigen Deutschlands zu einem engern
Bundesstacite hindert, sie sprechen fortwährend von den kommerziellen und strategischen
Rücksichten, die für Deutschland eine Verbindung mit Oestreich nöthig machen,
und vergessen darüber ganz, daß Niemand in Deutschland das übersteht, daß Jeder¬
mann den möglichst engen Anschluß Oestreichs wünscht, daß man doch aber nicht
warten kann, bis Oestreich für gut hält, seine Einwilligung zur Herstellung eines
vernünftigen Zustandes zu geben, wozu es selber nicht im Mindesten beitragen will.
Dabei läßt es ein guter Oestreich er selten an spöttischen Seitenblicken ans "Klcindentsch-


Rechtsbewußtsein, an allem sichern Halt; es wird alles ex aequo et Kono abgeschätzt,
und dabei geht nur zu häufig das aePinm und das boiuim verloren. Von den eigent¬
lichen „Gutgesinnten" alten und neuen Datums will ich ganz schweigen; selbst Melden,
der in seinem allerdings nicht liebenswürdigen Genre wenigstens privatim ein ehrlicher,
offner alter Gesell und dabei ein drolliger Kauz ist, spricht trotz oder wegen ihres
unverschämten Katzenbuckelns häufig ganz unumwunden die ungeheuchelte Verachtung
aus, die er gegen sie empfindet. Wien ist in seinem gegenwärtigen Zustande nicht
der Ort, von dem aus man die Verhältnisse frei übersehen kann, aber ich fürchte,
Oestreich wird noch manche Krise durchmache» müssen, es wird noch manches Jahr in's
Land gehen, ehe die östreichische Charte eine Wahrheit werden kann. Man pflegt in
Deutschland wohl die Reformbestrebungen des Kaiser Joseph als aufgeklärten Despotis¬
mus mit einem Achselzucken abzufertigen; die das thun, zeigen, daß sie östreichische
Zustände nicht kennen, hätte Joseph zehn, zwanzig Jahre länger gelebt, es sähe um
Oestreich besser aus; ein festes, energisches, selbst schonungsloses Durchgreifen nach
beiden Seiten hin, ist hier durchaus nothwendig, aber freilich nicht zu Gunsten eines
rathlosen, willkürlichen Experimentirens, sondern eines bestimmten, consequent durchge¬
führten Princips. Ja, es läßt sich leider nicht in Abrede stellen, die östreichischen Zu¬
stände hinken auf beiden Seiten, sie sind durchaus unwahr und unhaltbar. Nehmen
Sie die erste beste Nummer der Wiener Zeitung zur Hand; dort finde» sie Todesur-
theile, die vielleicht eines unvorsichtigen Wortes wegen, ausgesprochen wurden, Gasscn-
laufen n. s. w. und ein paar Seiten darauf vielleicht die freilich verstümmelte Debatte
des Reichstags über die Abschaffung der Todesstrafe. Wie kann das auf das
Volksbewußtsein wirken, wenn Grundsätze der modernen Humanität und Cultur, die in
der Theorie anerkannt werden, i» der Praxis täglich ans die rohste Weise in's Gesicht
geschlagen werden? Es sitzen in dem östreichischen Reichstag gewiß viele ehrenwerthe
und tüchtige Männer, aber ich kann mir nicht helfen, wenn ich sie für Freiheit, Recht
und Wahrheit sprechen höre, so kommt es mir vor, als sagten sie ein eingelerntes
Pensum auf, an das sie selbst nicht recht glaube». — Doch ich gerathe in Reflexionen,
erlaube» Sie nur noch, daß ich ein paar Worte hinzufüge, wie mau sich hier den Anschluß
an Deutschland denkt. Im Allgemeinen kaun man als Regel betrachten, daß die
Dcutschöstrcicher, die überhaupt politische Ncslcctiouen anstellen, in dem Anschluß an
Deutschland nur eine Verstärkung des deutschen Elements in Oestreich suchen, daher die
wahnsinnige Idee des großen Mittclreichcs, das nichts als ein Oestreich mit all seinen
Mängeln in vergrößertem Maßstabe sein würde. Die Vertheidiger des Mittclreichcs
weisen fortwährend triumphirend darauf hin, daß in ihm die Deutschen in entschiedener
Majorität sein würden. Als ob es sich für Deutschland darum handelte, fortwährend
gegen andere Völker mit Bangen um seine Existenz abzustimmen! Das Ärgerlichste
aber ist, daß die meisten Leute hier einen ganz besondern Gnadcuakt von Seiten Oest¬
reichs darin sehen, wenn es die Constituirung des übrigen Deutschlands zu einem engern
Bundesstacite hindert, sie sprechen fortwährend von den kommerziellen und strategischen
Rücksichten, die für Deutschland eine Verbindung mit Oestreich nöthig machen,
und vergessen darüber ganz, daß Niemand in Deutschland das übersteht, daß Jeder¬
mann den möglichst engen Anschluß Oestreichs wünscht, daß man doch aber nicht
warten kann, bis Oestreich für gut hält, seine Einwilligung zur Herstellung eines
vernünftigen Zustandes zu geben, wozu es selber nicht im Mindesten beitragen will.
Dabei läßt es ein guter Oestreich er selten an spöttischen Seitenblicken ans „Klcindentsch-


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[0365] Rechtsbewußtsein, an allem sichern Halt; es wird alles ex aequo et Kono abgeschätzt, und dabei geht nur zu häufig das aePinm und das boiuim verloren. Von den eigent¬ lichen „Gutgesinnten" alten und neuen Datums will ich ganz schweigen; selbst Melden, der in seinem allerdings nicht liebenswürdigen Genre wenigstens privatim ein ehrlicher, offner alter Gesell und dabei ein drolliger Kauz ist, spricht trotz oder wegen ihres unverschämten Katzenbuckelns häufig ganz unumwunden die ungeheuchelte Verachtung aus, die er gegen sie empfindet. Wien ist in seinem gegenwärtigen Zustande nicht der Ort, von dem aus man die Verhältnisse frei übersehen kann, aber ich fürchte, Oestreich wird noch manche Krise durchmache» müssen, es wird noch manches Jahr in's Land gehen, ehe die östreichische Charte eine Wahrheit werden kann. Man pflegt in Deutschland wohl die Reformbestrebungen des Kaiser Joseph als aufgeklärten Despotis¬ mus mit einem Achselzucken abzufertigen; die das thun, zeigen, daß sie östreichische Zustände nicht kennen, hätte Joseph zehn, zwanzig Jahre länger gelebt, es sähe um Oestreich besser aus; ein festes, energisches, selbst schonungsloses Durchgreifen nach beiden Seiten hin, ist hier durchaus nothwendig, aber freilich nicht zu Gunsten eines rathlosen, willkürlichen Experimentirens, sondern eines bestimmten, consequent durchge¬ führten Princips. Ja, es läßt sich leider nicht in Abrede stellen, die östreichischen Zu¬ stände hinken auf beiden Seiten, sie sind durchaus unwahr und unhaltbar. Nehmen Sie die erste beste Nummer der Wiener Zeitung zur Hand; dort finde» sie Todesur- theile, die vielleicht eines unvorsichtigen Wortes wegen, ausgesprochen wurden, Gasscn- laufen n. s. w. und ein paar Seiten darauf vielleicht die freilich verstümmelte Debatte des Reichstags über die Abschaffung der Todesstrafe. Wie kann das auf das Volksbewußtsein wirken, wenn Grundsätze der modernen Humanität und Cultur, die in der Theorie anerkannt werden, i» der Praxis täglich ans die rohste Weise in's Gesicht geschlagen werden? Es sitzen in dem östreichischen Reichstag gewiß viele ehrenwerthe und tüchtige Männer, aber ich kann mir nicht helfen, wenn ich sie für Freiheit, Recht und Wahrheit sprechen höre, so kommt es mir vor, als sagten sie ein eingelerntes Pensum auf, an das sie selbst nicht recht glaube». — Doch ich gerathe in Reflexionen, erlaube» Sie nur noch, daß ich ein paar Worte hinzufüge, wie mau sich hier den Anschluß an Deutschland denkt. Im Allgemeinen kaun man als Regel betrachten, daß die Dcutschöstrcicher, die überhaupt politische Ncslcctiouen anstellen, in dem Anschluß an Deutschland nur eine Verstärkung des deutschen Elements in Oestreich suchen, daher die wahnsinnige Idee des großen Mittclreichcs, das nichts als ein Oestreich mit all seinen Mängeln in vergrößertem Maßstabe sein würde. Die Vertheidiger des Mittclreichcs weisen fortwährend triumphirend darauf hin, daß in ihm die Deutschen in entschiedener Majorität sein würden. Als ob es sich für Deutschland darum handelte, fortwährend gegen andere Völker mit Bangen um seine Existenz abzustimmen! Das Ärgerlichste aber ist, daß die meisten Leute hier einen ganz besondern Gnadcuakt von Seiten Oest¬ reichs darin sehen, wenn es die Constituirung des übrigen Deutschlands zu einem engern Bundesstacite hindert, sie sprechen fortwährend von den kommerziellen und strategischen Rücksichten, die für Deutschland eine Verbindung mit Oestreich nöthig machen, und vergessen darüber ganz, daß Niemand in Deutschland das übersteht, daß Jeder¬ mann den möglichst engen Anschluß Oestreichs wünscht, daß man doch aber nicht warten kann, bis Oestreich für gut hält, seine Einwilligung zur Herstellung eines vernünftigen Zustandes zu geben, wozu es selber nicht im Mindesten beitragen will. Dabei läßt es ein guter Oestreich er selten an spöttischen Seitenblicken ans „Klcindentsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/365>, abgerufen am 22.12.2024.