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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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sich kümmern, und von dem schrecklichen Abgrund nichts wissen wollen, ans welchem
die Ewigkeit hervorlanscht? Nein, sie sehen nur den schönen Knaben, den Erben
des alten angestammten Königshauses, der im Triumph geleitet von seinen sieg¬
reichen Kriegern, den Fuß ans den Nacken niedergeworfener Rebellen setzt. Und
unwillkürlich richten sich ihre Gedanken in die Ferne, nach dem verbannten Knaben
in den Bergen Thüringens, den der aufrührerische Pöbel von Paris aus dem
Vaterlande vertrieben. Was ist ihnen Zion, was der heilige Tempel des alten
Jehovah, daß sie frohlocken sollen über die Siegeshymnen der Leviten? Sie
kennen nnr die "große Nation" und ihre Geschicke, und ihre Thräne wie ihr Jnbel
gilt nur dem eignen Loos.

Der Deutsche hat sich uun in die Politik verloren, aber die stille Welt der
Kunst bleibt ihm heilig. Wenn die Farbe nicht zu dick aufgetragen ist, so fühlt
er die Anspielung nicht heraus. Der "Tyrann" Friedrich Wilhelm, gegen den
seine Clubs donnern, den seine Schmutzblätter mit Koth bewerfen, dem seine
Repräsentanten ihr offtcielles Mißtrauen ausdrücken, gegen den seine Regierung
selber intriguirt -- der sächsische Philister hat ihn vergessen, wenn er ins Theater
geht; er ist im siebzehnten Jahrhundert, und denkt nicht weiter darau, daß des
großen Kurfürsten Hans und sein Kriegerstaat noch gedeihen und wachsen und daß
man im Herzen Deutschlands ernstliche Anstalten macht, die glänzende Prophe¬
zeiung, mit welcher Nalalie die Hohenzollern begrüßt, in Erfüllung gehn zu
lassen.

Erst seitdem wir einen freieren Blick in unsre eigne Lage errungen haben,
kommt der Umstand unserer früheren Zustände vollständig ans Licht. Ich keime
kein dichterisches Werk, in welchem eine edlere Begeisterung für das Vaterland
athmete -- das einzige Medium, das Volk mit seinen Fürsten nicht blos äußerlich
zu einigen -- und doch war es von den preußischen Hofe'usum verbannt, weil
es gegen die Etikette war, einen Verwandten des regierenden Hanfes ans die
Bretter zu bringe"! Engherzige Prüderie des modern protestantischen Staates!
Der Katholik sieht seine Heiligen, die Jungfrau Maria nicht ausgeschlossen, auf
der Bühne mit derselben Andacht, mit der er sich in der Kirche vor ihrem Bilde
niederwirft; er ist nicht mehr von dem jüdischen Aberglauben besessen, daß der
Anblick des Herr" tödtlich sei. Wir siud spröde geworden, weil wir uns selber
nicht mehr trauen. Selbst an seinem Jubelfeste darf Friedrich der Große uur
hinter der Scene die Flöte spielen, in eigner Person darf er in seinem Feldlager
nicht erscheinen. Die Poesie gilt für eine leichtfertige Kokette, man thut schön
mit ihr, aber man traut ihr uicht.

In den Zeiten der Censur galt es für malhonett, die Könige zu loben; mit
Recht. Man soll nicht loben, wenn man nicht tadeln darf. Im freien Staat
muß es anders werden. Der "beschränkte Unterthanenverstand" durfte uicht pa¬
triotisch sein, sonst wurde er gemein; im freien Kampf dagegen darf man wieder


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sich kümmern, und von dem schrecklichen Abgrund nichts wissen wollen, ans welchem
die Ewigkeit hervorlanscht? Nein, sie sehen nur den schönen Knaben, den Erben
des alten angestammten Königshauses, der im Triumph geleitet von seinen sieg¬
reichen Kriegern, den Fuß ans den Nacken niedergeworfener Rebellen setzt. Und
unwillkürlich richten sich ihre Gedanken in die Ferne, nach dem verbannten Knaben
in den Bergen Thüringens, den der aufrührerische Pöbel von Paris aus dem
Vaterlande vertrieben. Was ist ihnen Zion, was der heilige Tempel des alten
Jehovah, daß sie frohlocken sollen über die Siegeshymnen der Leviten? Sie
kennen nnr die „große Nation" und ihre Geschicke, und ihre Thräne wie ihr Jnbel
gilt nur dem eignen Loos.

Der Deutsche hat sich uun in die Politik verloren, aber die stille Welt der
Kunst bleibt ihm heilig. Wenn die Farbe nicht zu dick aufgetragen ist, so fühlt
er die Anspielung nicht heraus. Der „Tyrann" Friedrich Wilhelm, gegen den
seine Clubs donnern, den seine Schmutzblätter mit Koth bewerfen, dem seine
Repräsentanten ihr offtcielles Mißtrauen ausdrücken, gegen den seine Regierung
selber intriguirt — der sächsische Philister hat ihn vergessen, wenn er ins Theater
geht; er ist im siebzehnten Jahrhundert, und denkt nicht weiter darau, daß des
großen Kurfürsten Hans und sein Kriegerstaat noch gedeihen und wachsen und daß
man im Herzen Deutschlands ernstliche Anstalten macht, die glänzende Prophe¬
zeiung, mit welcher Nalalie die Hohenzollern begrüßt, in Erfüllung gehn zu
lassen.

Erst seitdem wir einen freieren Blick in unsre eigne Lage errungen haben,
kommt der Umstand unserer früheren Zustände vollständig ans Licht. Ich keime
kein dichterisches Werk, in welchem eine edlere Begeisterung für das Vaterland
athmete — das einzige Medium, das Volk mit seinen Fürsten nicht blos äußerlich
zu einigen — und doch war es von den preußischen Hofe'usum verbannt, weil
es gegen die Etikette war, einen Verwandten des regierenden Hanfes ans die
Bretter zu bringe»! Engherzige Prüderie des modern protestantischen Staates!
Der Katholik sieht seine Heiligen, die Jungfrau Maria nicht ausgeschlossen, auf
der Bühne mit derselben Andacht, mit der er sich in der Kirche vor ihrem Bilde
niederwirft; er ist nicht mehr von dem jüdischen Aberglauben besessen, daß der
Anblick des Herr» tödtlich sei. Wir siud spröde geworden, weil wir uns selber
nicht mehr trauen. Selbst an seinem Jubelfeste darf Friedrich der Große uur
hinter der Scene die Flöte spielen, in eigner Person darf er in seinem Feldlager
nicht erscheinen. Die Poesie gilt für eine leichtfertige Kokette, man thut schön
mit ihr, aber man traut ihr uicht.

In den Zeiten der Censur galt es für malhonett, die Könige zu loben; mit
Recht. Man soll nicht loben, wenn man nicht tadeln darf. Im freien Staat
muß es anders werden. Der „beschränkte Unterthanenverstand" durfte uicht pa¬
triotisch sein, sonst wurde er gemein; im freien Kampf dagegen darf man wieder


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[0347] sich kümmern, und von dem schrecklichen Abgrund nichts wissen wollen, ans welchem die Ewigkeit hervorlanscht? Nein, sie sehen nur den schönen Knaben, den Erben des alten angestammten Königshauses, der im Triumph geleitet von seinen sieg¬ reichen Kriegern, den Fuß ans den Nacken niedergeworfener Rebellen setzt. Und unwillkürlich richten sich ihre Gedanken in die Ferne, nach dem verbannten Knaben in den Bergen Thüringens, den der aufrührerische Pöbel von Paris aus dem Vaterlande vertrieben. Was ist ihnen Zion, was der heilige Tempel des alten Jehovah, daß sie frohlocken sollen über die Siegeshymnen der Leviten? Sie kennen nnr die „große Nation" und ihre Geschicke, und ihre Thräne wie ihr Jnbel gilt nur dem eignen Loos. Der Deutsche hat sich uun in die Politik verloren, aber die stille Welt der Kunst bleibt ihm heilig. Wenn die Farbe nicht zu dick aufgetragen ist, so fühlt er die Anspielung nicht heraus. Der „Tyrann" Friedrich Wilhelm, gegen den seine Clubs donnern, den seine Schmutzblätter mit Koth bewerfen, dem seine Repräsentanten ihr offtcielles Mißtrauen ausdrücken, gegen den seine Regierung selber intriguirt — der sächsische Philister hat ihn vergessen, wenn er ins Theater geht; er ist im siebzehnten Jahrhundert, und denkt nicht weiter darau, daß des großen Kurfürsten Hans und sein Kriegerstaat noch gedeihen und wachsen und daß man im Herzen Deutschlands ernstliche Anstalten macht, die glänzende Prophe¬ zeiung, mit welcher Nalalie die Hohenzollern begrüßt, in Erfüllung gehn zu lassen. Erst seitdem wir einen freieren Blick in unsre eigne Lage errungen haben, kommt der Umstand unserer früheren Zustände vollständig ans Licht. Ich keime kein dichterisches Werk, in welchem eine edlere Begeisterung für das Vaterland athmete — das einzige Medium, das Volk mit seinen Fürsten nicht blos äußerlich zu einigen — und doch war es von den preußischen Hofe'usum verbannt, weil es gegen die Etikette war, einen Verwandten des regierenden Hanfes ans die Bretter zu bringe»! Engherzige Prüderie des modern protestantischen Staates! Der Katholik sieht seine Heiligen, die Jungfrau Maria nicht ausgeschlossen, auf der Bühne mit derselben Andacht, mit der er sich in der Kirche vor ihrem Bilde niederwirft; er ist nicht mehr von dem jüdischen Aberglauben besessen, daß der Anblick des Herr» tödtlich sei. Wir siud spröde geworden, weil wir uns selber nicht mehr trauen. Selbst an seinem Jubelfeste darf Friedrich der Große uur hinter der Scene die Flöte spielen, in eigner Person darf er in seinem Feldlager nicht erscheinen. Die Poesie gilt für eine leichtfertige Kokette, man thut schön mit ihr, aber man traut ihr uicht. In den Zeiten der Censur galt es für malhonett, die Könige zu loben; mit Recht. Man soll nicht loben, wenn man nicht tadeln darf. Im freien Staat muß es anders werden. Der „beschränkte Unterthanenverstand" durfte uicht pa¬ triotisch sein, sonst wurde er gemein; im freien Kampf dagegen darf man wieder 43*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/347>, abgerufen am 22.12.2024.