Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.Verlust einer Minute des Genusses Großes ab. Und doch ist Paris nur scheinbar Sichtbar ruht der Geist der starren Langeweile aus der Seinestadt, der Wer hätte das prophezeit nach den glorreichen Märztagen, was heute ein¬ Verlust einer Minute des Genusses Großes ab. Und doch ist Paris nur scheinbar Sichtbar ruht der Geist der starren Langeweile aus der Seinestadt, der Wer hätte das prophezeit nach den glorreichen Märztagen, was heute ein¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0183" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278171"/> <p xml:id="ID_576" prev="#ID_575"> Verlust einer Minute des Genusses Großes ab. Und doch ist Paris nur scheinbar<lb/> das Alte, nur für den, der es nicht anders kennt, als aus flüchtig verlebten<lb/> frohen Tagen oder Wochen; für den fremden Gast, der in der Weltstadt lernen<lb/> wollte, was Welt sei. Dem Eingebornen oder dem, den ein jahrelanger Aufent¬<lb/> halt zum Pariser umgewandelt hat, ist die Physiognomie der Stadt eine so neue,<lb/> so ganz andere geworden, daß er, wie ich, mit der Hand nach der Stirn fährt<lb/> und sich fragt: Träume ich? Wie ist es möglich, daß in so kurzer Zeit mir Alles<lb/> das so fremd und unheimlich ward, daß ich mich nicht mehr zurecht finde in dieses<lb/> neue Treiben, daß das Bild vor meinen Augen von dem, welches ich mir aus<lb/> Zeitungsberichten seither zusammengestellt, so himmelweit verschieden ist?</p><lb/> <p xml:id="ID_577"> Sichtbar ruht der Geist der starren Langeweile aus der Seinestadt, der<lb/> Langeweile, welche einem heimlich ersehnten Ereigniß vorangeht, das man aus<lb/> Furcht und Scheu doch weder sich selbst, uoch Andern als wünschenswert!) dar¬<lb/> stellen mag. In dieser Zeit hat der Pariser ganz seine alte Sicherheit und den<lb/> glücklichen Leichtsinn verloren, mit welchem er lachend über umgestürzte Throne<lb/> und über Barrikaden sprang, er ist nicht gerade nachdenklich und überlegend ge¬<lb/> worden, denn das wäre zuviel verlangt, aber es ist ihm eng und unheimlich in<lb/> dem neuen Gewand, das ihm eine unsichtbare Gewalt plötzlich über die Schultern<lb/> geworfen. Er kann sich nicht recht besinnen auf die Situation, in der er sich<lb/> gegenwärtig befindet, verwirrt und irre gemacht, schwankt sein Blick über den<lb/> Weg, den er zurückgelegt von dem: I/peat c'e«t um! — bis zu dem: l'ont est<lb/> penlu siiuf — Jo vom! Von Zeit zu Zeit kommt es ihm vor, als befände er sich<lb/> in einer Drehmühle und er sängt an, an Wunder zu glauben. Der Pariser an<lb/> Wunder — das ist selbst schon ein Wunder.</p><lb/> <p xml:id="ID_578" next="#ID_579"> Wer hätte das prophezeit nach den glorreichen Märztagen, was heute ein¬<lb/> getroffen ist? Niemand würde geglaubt haben, daß heute die Boulevards wieder<lb/> von Uniformen wimmeln, daß die Troupiers sich unerträglich breit machen, die<lb/> alten Cürassiere wieder anfangen, Haare und Schurrbart in Zöpfe zu flechten<lb/> und die Offiziere der Linie mit Geringschätzung aus die Epauletten der Gervürz-<lb/> krämer in der Nationalgarde blicken. In dem drängenden Gewühl auf den Bou¬<lb/> levards des Italiens, des Capucines, de la Madeleine taucht hier und da zu¬<lb/> weilen eine seltsame Erscheinung auf, die einen kleinen Zusammenlauf verursacht<lb/> — es ist irgeud ein alter Employe aus der Zeit des Empire, der seine napoleo¬<lb/> nische Uniform hervorgesucht hat und sie nunmehr zur Schau trägt, weil er hofft,<lb/> sein Ideal, den Receveur general, dadurch erreichen zu können. Aber schon macht<lb/> eine solche Erscheinung kein Aufsehn mehr, man lacht darüber und reißt Witze,<lb/> und höchstens schreit ein Gamin sein vive l'emperevr! wenn er dem Stellenjäger<lb/> glücklich und unbemerkt einen Papierzops angeheftet hat. Selbst die Invaliden<lb/> schütteln unwillig die grauen Köpfe über das schamlose Getriebe der Bittschrift»<lb/> Helden. Die Gardes mobiles, welche seit den Tagen des März und des Juni</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0183]
Verlust einer Minute des Genusses Großes ab. Und doch ist Paris nur scheinbar
das Alte, nur für den, der es nicht anders kennt, als aus flüchtig verlebten
frohen Tagen oder Wochen; für den fremden Gast, der in der Weltstadt lernen
wollte, was Welt sei. Dem Eingebornen oder dem, den ein jahrelanger Aufent¬
halt zum Pariser umgewandelt hat, ist die Physiognomie der Stadt eine so neue,
so ganz andere geworden, daß er, wie ich, mit der Hand nach der Stirn fährt
und sich fragt: Träume ich? Wie ist es möglich, daß in so kurzer Zeit mir Alles
das so fremd und unheimlich ward, daß ich mich nicht mehr zurecht finde in dieses
neue Treiben, daß das Bild vor meinen Augen von dem, welches ich mir aus
Zeitungsberichten seither zusammengestellt, so himmelweit verschieden ist?
Sichtbar ruht der Geist der starren Langeweile aus der Seinestadt, der
Langeweile, welche einem heimlich ersehnten Ereigniß vorangeht, das man aus
Furcht und Scheu doch weder sich selbst, uoch Andern als wünschenswert!) dar¬
stellen mag. In dieser Zeit hat der Pariser ganz seine alte Sicherheit und den
glücklichen Leichtsinn verloren, mit welchem er lachend über umgestürzte Throne
und über Barrikaden sprang, er ist nicht gerade nachdenklich und überlegend ge¬
worden, denn das wäre zuviel verlangt, aber es ist ihm eng und unheimlich in
dem neuen Gewand, das ihm eine unsichtbare Gewalt plötzlich über die Schultern
geworfen. Er kann sich nicht recht besinnen auf die Situation, in der er sich
gegenwärtig befindet, verwirrt und irre gemacht, schwankt sein Blick über den
Weg, den er zurückgelegt von dem: I/peat c'e«t um! — bis zu dem: l'ont est
penlu siiuf — Jo vom! Von Zeit zu Zeit kommt es ihm vor, als befände er sich
in einer Drehmühle und er sängt an, an Wunder zu glauben. Der Pariser an
Wunder — das ist selbst schon ein Wunder.
Wer hätte das prophezeit nach den glorreichen Märztagen, was heute ein¬
getroffen ist? Niemand würde geglaubt haben, daß heute die Boulevards wieder
von Uniformen wimmeln, daß die Troupiers sich unerträglich breit machen, die
alten Cürassiere wieder anfangen, Haare und Schurrbart in Zöpfe zu flechten
und die Offiziere der Linie mit Geringschätzung aus die Epauletten der Gervürz-
krämer in der Nationalgarde blicken. In dem drängenden Gewühl auf den Bou¬
levards des Italiens, des Capucines, de la Madeleine taucht hier und da zu¬
weilen eine seltsame Erscheinung auf, die einen kleinen Zusammenlauf verursacht
— es ist irgeud ein alter Employe aus der Zeit des Empire, der seine napoleo¬
nische Uniform hervorgesucht hat und sie nunmehr zur Schau trägt, weil er hofft,
sein Ideal, den Receveur general, dadurch erreichen zu können. Aber schon macht
eine solche Erscheinung kein Aufsehn mehr, man lacht darüber und reißt Witze,
und höchstens schreit ein Gamin sein vive l'emperevr! wenn er dem Stellenjäger
glücklich und unbemerkt einen Papierzops angeheftet hat. Selbst die Invaliden
schütteln unwillig die grauen Köpfe über das schamlose Getriebe der Bittschrift»
Helden. Die Gardes mobiles, welche seit den Tagen des März und des Juni
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