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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Die Helden des Sophokles hatten das Recht, eine Schuld und ein Schicksal zu
haben, der Chor, die Masse, das souveraine Volk war tadellos. Er drückte,
wie man es in der Schulsprache bezeichnet, die sittliche Substanz aus, die so¬
genannte moralische Gesinnung, die darum, weil sie rein von Schuld ist, gar uicht
über dem Helden steht, dessen Handlungsweise sie corrigirt. Das Gesinde hat
auch ein Urtheil über die Herrschaft, das Publikum über den Künstler, die Zei-
tungsleser über Napoleon. Publikus weiß alles besser, dafür läßt er auch das
Musiciren bleiben. Der Chor, der Träger der sittlichen Gesinnung, der nach
rechts und nach links hin Beifall murmelte, durfte an dem höchsten Recht der
Person, der Schuld, also auch der That, keinen Antheil nehmen; er war sou-
verain, wie die constitutionellen Könige, d. h. er durste nur soweit mitreden, als
es ihm seine verantwortlichen Minister erlaubten. Diese in^e"t."8 ne>i>nu wollte
also nicht soviel sagen, es war ke.in Aberglauben, wie bei unsern guten Republika¬
nern, denen sich übrigens auch manches gekrönte Haupt anschließt. Vor einem
Jahr rief der König von Preußen im weißen Saal: Von allen Schmähungen,
die Meine Regierung treffen, appellir' ich an Mein Volk. Dieses Volk sehe ich
aber nicht in dem, nicht in dem -- und nnn wurde Alles aufgezählt, was eine
selbstständige Meinung hatte, und was blieb am Ende übrig? Ein Paar alte Wei¬
berthränen über geschenkte Kartoffeln in Zeiten der Noth. -- Siehe da, Israel,
das sind deine Götter!

Ein Atheist sagte von Gott, er sei der Wauwau, dem mau alles in die
Schuhe schiebe, was für die Menschen zu schlecht wäre. Bei unsern Radikalen
ist das Voll ein solcher Wauwau. Sie appelliren vom Magistrat, von den
Stadtverordneten, von der Regierung, von den Stauden, auch wohl von den
Clubs an diesen souverainen Wauwau. Wer dieser eigentlich sei, konnten die
griechischen Dichter nicht analysiren, denn sie kannten uicht den vielstimmigen Ge¬
sang, sie ließen der concreten Individualität ihr Recht uicht widerfahren. Aber
Shakespeare hat es gethan, er hat diesen souverainen Wauwau, dieses ans
allen Farben zusammengemischte niederträchtige Grau in seine Bestandtheile
aufgelöst. Studieren Sie seinen Cäsar, seinen Coriolan, da werden Sie
Ihren Götzen in seiner Aualysts sehen, eben so gut wie im Strauß und Feuer¬
bach die Götzen des Mittelalters. Sie lieben Shakespeare freilich nicht, denn er
ist kein Phraseur. Aber wahr ist er, und schlagen Sie das Buch der Geschichte
auf, so werden Sie jedesmal, wo die blinde Masse ius Handeln kommt, dieselbe
Erscheinung finden. Hier zerreißt die tollgewordene Menge den Cinna seines Namens
wegen; in den Septembcrtagcn 17!>2 umtanzten die Bestien das abgeschlagene
Haupt der Lamballe im Namen der Freiheit; I 572 war es die Religion, zu de¬
ren Ehren sie aus dem Leichnam ColignyS und der geschlachteten Hugenotten tram¬
pelten, zu deren Ehre sie die Hexen verbrannten, die Ketzer ins Feuer warfen,
es war überall, wie noch heute in der wahnsinnigen Juniemente, dieselbe Macht,


Die Helden des Sophokles hatten das Recht, eine Schuld und ein Schicksal zu
haben, der Chor, die Masse, das souveraine Volk war tadellos. Er drückte,
wie man es in der Schulsprache bezeichnet, die sittliche Substanz aus, die so¬
genannte moralische Gesinnung, die darum, weil sie rein von Schuld ist, gar uicht
über dem Helden steht, dessen Handlungsweise sie corrigirt. Das Gesinde hat
auch ein Urtheil über die Herrschaft, das Publikum über den Künstler, die Zei-
tungsleser über Napoleon. Publikus weiß alles besser, dafür läßt er auch das
Musiciren bleiben. Der Chor, der Träger der sittlichen Gesinnung, der nach
rechts und nach links hin Beifall murmelte, durfte an dem höchsten Recht der
Person, der Schuld, also auch der That, keinen Antheil nehmen; er war sou-
verain, wie die constitutionellen Könige, d. h. er durste nur soweit mitreden, als
es ihm seine verantwortlichen Minister erlaubten. Diese in^e«t.»8 ne>i>nu wollte
also nicht soviel sagen, es war ke.in Aberglauben, wie bei unsern guten Republika¬
nern, denen sich übrigens auch manches gekrönte Haupt anschließt. Vor einem
Jahr rief der König von Preußen im weißen Saal: Von allen Schmähungen,
die Meine Regierung treffen, appellir' ich an Mein Volk. Dieses Volk sehe ich
aber nicht in dem, nicht in dem — und nnn wurde Alles aufgezählt, was eine
selbstständige Meinung hatte, und was blieb am Ende übrig? Ein Paar alte Wei¬
berthränen über geschenkte Kartoffeln in Zeiten der Noth. — Siehe da, Israel,
das sind deine Götter!

Ein Atheist sagte von Gott, er sei der Wauwau, dem mau alles in die
Schuhe schiebe, was für die Menschen zu schlecht wäre. Bei unsern Radikalen
ist das Voll ein solcher Wauwau. Sie appelliren vom Magistrat, von den
Stadtverordneten, von der Regierung, von den Stauden, auch wohl von den
Clubs an diesen souverainen Wauwau. Wer dieser eigentlich sei, konnten die
griechischen Dichter nicht analysiren, denn sie kannten uicht den vielstimmigen Ge¬
sang, sie ließen der concreten Individualität ihr Recht uicht widerfahren. Aber
Shakespeare hat es gethan, er hat diesen souverainen Wauwau, dieses ans
allen Farben zusammengemischte niederträchtige Grau in seine Bestandtheile
aufgelöst. Studieren Sie seinen Cäsar, seinen Coriolan, da werden Sie
Ihren Götzen in seiner Aualysts sehen, eben so gut wie im Strauß und Feuer¬
bach die Götzen des Mittelalters. Sie lieben Shakespeare freilich nicht, denn er
ist kein Phraseur. Aber wahr ist er, und schlagen Sie das Buch der Geschichte
auf, so werden Sie jedesmal, wo die blinde Masse ius Handeln kommt, dieselbe
Erscheinung finden. Hier zerreißt die tollgewordene Menge den Cinna seines Namens
wegen; in den Septembcrtagcn 17!>2 umtanzten die Bestien das abgeschlagene
Haupt der Lamballe im Namen der Freiheit; I 572 war es die Religion, zu de¬
ren Ehren sie aus dem Leichnam ColignyS und der geschlachteten Hugenotten tram¬
pelten, zu deren Ehre sie die Hexen verbrannten, die Ketzer ins Feuer warfen,
es war überall, wie noch heute in der wahnsinnigen Juniemente, dieselbe Macht,


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[0076] Die Helden des Sophokles hatten das Recht, eine Schuld und ein Schicksal zu haben, der Chor, die Masse, das souveraine Volk war tadellos. Er drückte, wie man es in der Schulsprache bezeichnet, die sittliche Substanz aus, die so¬ genannte moralische Gesinnung, die darum, weil sie rein von Schuld ist, gar uicht über dem Helden steht, dessen Handlungsweise sie corrigirt. Das Gesinde hat auch ein Urtheil über die Herrschaft, das Publikum über den Künstler, die Zei- tungsleser über Napoleon. Publikus weiß alles besser, dafür läßt er auch das Musiciren bleiben. Der Chor, der Träger der sittlichen Gesinnung, der nach rechts und nach links hin Beifall murmelte, durfte an dem höchsten Recht der Person, der Schuld, also auch der That, keinen Antheil nehmen; er war sou- verain, wie die constitutionellen Könige, d. h. er durste nur soweit mitreden, als es ihm seine verantwortlichen Minister erlaubten. Diese in^e«t.»8 ne>i>nu wollte also nicht soviel sagen, es war ke.in Aberglauben, wie bei unsern guten Republika¬ nern, denen sich übrigens auch manches gekrönte Haupt anschließt. Vor einem Jahr rief der König von Preußen im weißen Saal: Von allen Schmähungen, die Meine Regierung treffen, appellir' ich an Mein Volk. Dieses Volk sehe ich aber nicht in dem, nicht in dem — und nnn wurde Alles aufgezählt, was eine selbstständige Meinung hatte, und was blieb am Ende übrig? Ein Paar alte Wei¬ berthränen über geschenkte Kartoffeln in Zeiten der Noth. — Siehe da, Israel, das sind deine Götter! Ein Atheist sagte von Gott, er sei der Wauwau, dem mau alles in die Schuhe schiebe, was für die Menschen zu schlecht wäre. Bei unsern Radikalen ist das Voll ein solcher Wauwau. Sie appelliren vom Magistrat, von den Stadtverordneten, von der Regierung, von den Stauden, auch wohl von den Clubs an diesen souverainen Wauwau. Wer dieser eigentlich sei, konnten die griechischen Dichter nicht analysiren, denn sie kannten uicht den vielstimmigen Ge¬ sang, sie ließen der concreten Individualität ihr Recht uicht widerfahren. Aber Shakespeare hat es gethan, er hat diesen souverainen Wauwau, dieses ans allen Farben zusammengemischte niederträchtige Grau in seine Bestandtheile aufgelöst. Studieren Sie seinen Cäsar, seinen Coriolan, da werden Sie Ihren Götzen in seiner Aualysts sehen, eben so gut wie im Strauß und Feuer¬ bach die Götzen des Mittelalters. Sie lieben Shakespeare freilich nicht, denn er ist kein Phraseur. Aber wahr ist er, und schlagen Sie das Buch der Geschichte auf, so werden Sie jedesmal, wo die blinde Masse ius Handeln kommt, dieselbe Erscheinung finden. Hier zerreißt die tollgewordene Menge den Cinna seines Namens wegen; in den Septembcrtagcn 17!>2 umtanzten die Bestien das abgeschlagene Haupt der Lamballe im Namen der Freiheit; I 572 war es die Religion, zu de¬ ren Ehren sie aus dem Leichnam ColignyS und der geschlachteten Hugenotten tram¬ pelten, zu deren Ehre sie die Hexen verbrannten, die Ketzer ins Feuer warfen, es war überall, wie noch heute in der wahnsinnigen Juniemente, dieselbe Macht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/76>, abgerufen am 29.06.2024.