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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Die übrigen Fürstenthümer waren zu schwach, um etwas für sich zu bedeuten.
Nur in Preußen war eine große zugleich deutsche und europäische Selbstständigkeit
gegründet, welche das volle Gefühl der Unabhängigkeit seit Jahrhunderten zum
ersten Mal wieder in die Gemüther brachte, durchdrungen von dem Stolze, auch
in Bezug auf die Weiterbildung der Welt Andern voranzugehen."

Die Grenzboten haben vor einem Jahr eine allgemeine Charakteristik von
Ranke'S schriftstellerischer Wirksamkeit gegeben. Sie haben dann die Geschichte
Preußens im Einzelnen Verfolgt, und den großen historischen Sinn, der sich auch
in diesem Werk ausspricht, freudig anerkannt. Die Zurechtmacherei, die zu Gunsten
des Corporalwesens -- diplomatisch ausgedrückt, der biedern altdeutschen Fami¬
liengesinnung -- im ersten Bande getrieben wird, fand in dem Weilern Verlauf
keine Gelegenheit sich zu äußern.

Als Ganzes betrachtet, muß ich doch gestehen, daß das Werk keinen guten
Eindruck macht. Daß wir es mit einem geistvollen Mann zu thun haben, finden
wir auf jeder Seite; die angezognen Stellen sind eine Probe davon. Allein der
Stoff erträgt keine künstlerische Behandlung. Die Geschichte umfaßt nämlich, Mit
Ausschluß der skizzenhaften Einleitung über die frühere preußische Geschichte, die
letzten Jahre der Negierung Friedrich Wilhelms I. und die Zeit bis gegen den
Aachner Frieden hin: ein Umfang von höchstens 20 Jahren. Es enthält diese
Zeit nur allgemeine, für den Forscher sehr interessante Verwickelungen, aber keine
Großthaten, die ein ansprechendes Bild möglich machen; am wenigsten, wenn
man Preußen zum Mittelpunkt macht. Der siebenjährige Krieg erträgt eine solche
Behandlung, aber diese Jahre haben keinen Anfang und keinen Schluß. Preußen
war damals nicht der geistige Mittelpunkt, wie er es später wurde; seine Bedeu¬
tung war noch untergeordneter Natur. Man verliert durch das viele Detail alle
Uebersicht; das gilt von den Kriegsthaten wie von den diplomatischen Unterhand¬
lungen und den administrativen Maßregeln zur innern Hebung Preußens. Vom
humanen Standpunkt kann man kein Interesse haben an diesen Miseren, wenn sie
zu sehr ins Einzelne ausgesponnen werden. Durch den Hinblick aus die großen
Weltbegebenheiten außerhalb der eigentlichen Sphäre der Darstellung wird die
Einheit des Gemäldes nur gestört, weil Berlin keineswegs der Knoten ist, in dem
sich die großen Fäden zusammenfinde". Bei den "Päpsten" war das etwas ganz
anderes. In Sanssouci finden sich zwar die Notabilitäten und Literaten in ziem¬
lich hinreichender Zahl zusammen, und geben Gelegenheit zu trefflichen Apercus,
über sie erscheinen nur als Zugvögel, sie liegen außerhalb der Ereignisse und sind
nnr episodisch zu verarbeiten. Voltaire als Diplomat erregt allerdings ein In¬
teresse, aber nur das Interesse der Kuriosität. Ebenso ist der Gegensatz der ele¬
ganten französischen Literatur zu dem trocknen, hausbacknen preußischen Wesen als
Genrebild meisterhaft ausgearbeitet; nicht minder die geistige Reaction gegen Friedrichs
Aufklärung, die legitime Partei der Hexenprocesse. Eine Reihe eigenthümlicher


Die übrigen Fürstenthümer waren zu schwach, um etwas für sich zu bedeuten.
Nur in Preußen war eine große zugleich deutsche und europäische Selbstständigkeit
gegründet, welche das volle Gefühl der Unabhängigkeit seit Jahrhunderten zum
ersten Mal wieder in die Gemüther brachte, durchdrungen von dem Stolze, auch
in Bezug auf die Weiterbildung der Welt Andern voranzugehen."

Die Grenzboten haben vor einem Jahr eine allgemeine Charakteristik von
Ranke'S schriftstellerischer Wirksamkeit gegeben. Sie haben dann die Geschichte
Preußens im Einzelnen Verfolgt, und den großen historischen Sinn, der sich auch
in diesem Werk ausspricht, freudig anerkannt. Die Zurechtmacherei, die zu Gunsten
des Corporalwesens — diplomatisch ausgedrückt, der biedern altdeutschen Fami¬
liengesinnung — im ersten Bande getrieben wird, fand in dem Weilern Verlauf
keine Gelegenheit sich zu äußern.

Als Ganzes betrachtet, muß ich doch gestehen, daß das Werk keinen guten
Eindruck macht. Daß wir es mit einem geistvollen Mann zu thun haben, finden
wir auf jeder Seite; die angezognen Stellen sind eine Probe davon. Allein der
Stoff erträgt keine künstlerische Behandlung. Die Geschichte umfaßt nämlich, Mit
Ausschluß der skizzenhaften Einleitung über die frühere preußische Geschichte, die
letzten Jahre der Negierung Friedrich Wilhelms I. und die Zeit bis gegen den
Aachner Frieden hin: ein Umfang von höchstens 20 Jahren. Es enthält diese
Zeit nur allgemeine, für den Forscher sehr interessante Verwickelungen, aber keine
Großthaten, die ein ansprechendes Bild möglich machen; am wenigsten, wenn
man Preußen zum Mittelpunkt macht. Der siebenjährige Krieg erträgt eine solche
Behandlung, aber diese Jahre haben keinen Anfang und keinen Schluß. Preußen
war damals nicht der geistige Mittelpunkt, wie er es später wurde; seine Bedeu¬
tung war noch untergeordneter Natur. Man verliert durch das viele Detail alle
Uebersicht; das gilt von den Kriegsthaten wie von den diplomatischen Unterhand¬
lungen und den administrativen Maßregeln zur innern Hebung Preußens. Vom
humanen Standpunkt kann man kein Interesse haben an diesen Miseren, wenn sie
zu sehr ins Einzelne ausgesponnen werden. Durch den Hinblick aus die großen
Weltbegebenheiten außerhalb der eigentlichen Sphäre der Darstellung wird die
Einheit des Gemäldes nur gestört, weil Berlin keineswegs der Knoten ist, in dem
sich die großen Fäden zusammenfinde». Bei den „Päpsten" war das etwas ganz
anderes. In Sanssouci finden sich zwar die Notabilitäten und Literaten in ziem¬
lich hinreichender Zahl zusammen, und geben Gelegenheit zu trefflichen Apercus,
über sie erscheinen nur als Zugvögel, sie liegen außerhalb der Ereignisse und sind
nnr episodisch zu verarbeiten. Voltaire als Diplomat erregt allerdings ein In¬
teresse, aber nur das Interesse der Kuriosität. Ebenso ist der Gegensatz der ele¬
ganten französischen Literatur zu dem trocknen, hausbacknen preußischen Wesen als
Genrebild meisterhaft ausgearbeitet; nicht minder die geistige Reaction gegen Friedrichs
Aufklärung, die legitime Partei der Hexenprocesse. Eine Reihe eigenthümlicher


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[0524] Die übrigen Fürstenthümer waren zu schwach, um etwas für sich zu bedeuten. Nur in Preußen war eine große zugleich deutsche und europäische Selbstständigkeit gegründet, welche das volle Gefühl der Unabhängigkeit seit Jahrhunderten zum ersten Mal wieder in die Gemüther brachte, durchdrungen von dem Stolze, auch in Bezug auf die Weiterbildung der Welt Andern voranzugehen." Die Grenzboten haben vor einem Jahr eine allgemeine Charakteristik von Ranke'S schriftstellerischer Wirksamkeit gegeben. Sie haben dann die Geschichte Preußens im Einzelnen Verfolgt, und den großen historischen Sinn, der sich auch in diesem Werk ausspricht, freudig anerkannt. Die Zurechtmacherei, die zu Gunsten des Corporalwesens — diplomatisch ausgedrückt, der biedern altdeutschen Fami¬ liengesinnung — im ersten Bande getrieben wird, fand in dem Weilern Verlauf keine Gelegenheit sich zu äußern. Als Ganzes betrachtet, muß ich doch gestehen, daß das Werk keinen guten Eindruck macht. Daß wir es mit einem geistvollen Mann zu thun haben, finden wir auf jeder Seite; die angezognen Stellen sind eine Probe davon. Allein der Stoff erträgt keine künstlerische Behandlung. Die Geschichte umfaßt nämlich, Mit Ausschluß der skizzenhaften Einleitung über die frühere preußische Geschichte, die letzten Jahre der Negierung Friedrich Wilhelms I. und die Zeit bis gegen den Aachner Frieden hin: ein Umfang von höchstens 20 Jahren. Es enthält diese Zeit nur allgemeine, für den Forscher sehr interessante Verwickelungen, aber keine Großthaten, die ein ansprechendes Bild möglich machen; am wenigsten, wenn man Preußen zum Mittelpunkt macht. Der siebenjährige Krieg erträgt eine solche Behandlung, aber diese Jahre haben keinen Anfang und keinen Schluß. Preußen war damals nicht der geistige Mittelpunkt, wie er es später wurde; seine Bedeu¬ tung war noch untergeordneter Natur. Man verliert durch das viele Detail alle Uebersicht; das gilt von den Kriegsthaten wie von den diplomatischen Unterhand¬ lungen und den administrativen Maßregeln zur innern Hebung Preußens. Vom humanen Standpunkt kann man kein Interesse haben an diesen Miseren, wenn sie zu sehr ins Einzelne ausgesponnen werden. Durch den Hinblick aus die großen Weltbegebenheiten außerhalb der eigentlichen Sphäre der Darstellung wird die Einheit des Gemäldes nur gestört, weil Berlin keineswegs der Knoten ist, in dem sich die großen Fäden zusammenfinde». Bei den „Päpsten" war das etwas ganz anderes. In Sanssouci finden sich zwar die Notabilitäten und Literaten in ziem¬ lich hinreichender Zahl zusammen, und geben Gelegenheit zu trefflichen Apercus, über sie erscheinen nur als Zugvögel, sie liegen außerhalb der Ereignisse und sind nnr episodisch zu verarbeiten. Voltaire als Diplomat erregt allerdings ein In¬ teresse, aber nur das Interesse der Kuriosität. Ebenso ist der Gegensatz der ele¬ ganten französischen Literatur zu dem trocknen, hausbacknen preußischen Wesen als Genrebild meisterhaft ausgearbeitet; nicht minder die geistige Reaction gegen Friedrichs Aufklärung, die legitime Partei der Hexenprocesse. Eine Reihe eigenthümlicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/524>, abgerufen am 29.06.2024.