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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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die Zukunft'der Republik von Neuem befestigen, denn man weiß, daß bis jetzt
die beiden parlamentarischen Hauptparteien nur über den Namen Republik einig
sind, nicht über ihren Inhalt; ja Thiers und mit ihm das Gros der Bourgeoisie
knüpft, wie er deutlich durchblicken ließ, seine Hingebung an die Republik an
Bedingungen, welche in den Augen der Republikaner von gestern die nackteste
Reaction sind. Diese Bedingungen heißen im Allgemeinen "die Prinzipien
der Ordnung", im Besondern vollständiges Aufgeben aller socialistischen, oder
wie er sich sarkastisch ausdrückt, aller antisocialen Bestrebungen und Experimente
-- und noch etwas mehr, sonst würde er blos die Proudhons, Blancs und Pages
zu bekämpfen haben, nicht aber auch das Mißtrauen der Partei Marrast empfinden.

Jene beiden Hauptparteien bezeichnet man nach ihren Versammlungsorten
Palais National und Rue de Poitiers. Palais National ist die unbedingte, aber
einfache Republik mit einer schwachen, oder versteckten Hinneigung zum Sozialis¬
mus bei einigen Mitgliedern; die gemäßigten Häupter der abgesetzten Vollziehuugs-
gewalt, Lamartine, Cremieux u.A. klammern sich an diese Partei, deren reinster
Ausdruck Marrast, deren feste Burg der schlichte biderbe Cavaignac ist. Rue Poi¬
tiers ist die alte Linke, ihr Vorkämpfer ist Thiers, aber auch sie hat einen tapfern
Degen auf ihrer Seite, den Kriegsminister General Lamoriciere. Im Palais
National finden sich vielleicht uneigennützigere Republikaner als Thiers, feurigere
Redner als Duvergier de Hauranne und geschicktere Agitatoren als Toqueville,
aber die staatsmännischen Kapacitäten überwiegen in der Rue Poitiers, die Ge¬
schäftsroutine ist jedenfalls größer auf selten der alten Linken. Frankreich aber
wird lange noch, selbst wenn ein freies Gemeindewesen ihm jetzt von der Consti¬
tuante bescheert würde, auf einen kleinen Kreis von "Möglichen" beschränkt
sein. Es gibt hier außer Paris keine Schule praktischer Politik und deshalb so wenig
Staatsmänner, die von Pik auf gedient haben. Daher ruft man in stürmischen
Zeiten, wo die Mäuner der Erfahrung verbraucht erscheinen, glänzende Stylisten,
Rhetoren oder Poeten an's Steuerruder, was für Literatur und Kunst sehr schmei¬
chelhaft, aber keine Bürgschaft für eine glückliche Fahrt ist.

Auch Thiers lernte am Barte Frankreichs scheeren, als die Julirevolution aus
dem Journalisten plötzlich einen Minister machte, aber er hat in den achtzehn Jah¬
ren, wenn auch Nichts (von seinen kleinen Geschicklichkeiten) vergessen, doch wirklich
viel gelernt, und in den parlamentarischen Schlachten, die er seit kaum einem
Monat schlug, entwickelte er eine so überlegene und gereifte Einsicht, daß all die
zischenden Stimmen des Mißtrauens, die sich gerechter Weise gegen den Bastillen-
erbauer und den Urheber der Septembergesetze zu erheben Pflegen, vor seiner kla¬
ren scharfen Beredtsamkeit verstummten und daß eine neue unglückliche Schild¬
erhebung der Socialisten unfehlbar ihn zum ersten, wo nicht einzig Möglichen
machen würde.

Zweimal hat Thiers in einem Bureau der Verfassungscommission und einmal


die Zukunft'der Republik von Neuem befestigen, denn man weiß, daß bis jetzt
die beiden parlamentarischen Hauptparteien nur über den Namen Republik einig
sind, nicht über ihren Inhalt; ja Thiers und mit ihm das Gros der Bourgeoisie
knüpft, wie er deutlich durchblicken ließ, seine Hingebung an die Republik an
Bedingungen, welche in den Augen der Republikaner von gestern die nackteste
Reaction sind. Diese Bedingungen heißen im Allgemeinen „die Prinzipien
der Ordnung", im Besondern vollständiges Aufgeben aller socialistischen, oder
wie er sich sarkastisch ausdrückt, aller antisocialen Bestrebungen und Experimente
— und noch etwas mehr, sonst würde er blos die Proudhons, Blancs und Pages
zu bekämpfen haben, nicht aber auch das Mißtrauen der Partei Marrast empfinden.

Jene beiden Hauptparteien bezeichnet man nach ihren Versammlungsorten
Palais National und Rue de Poitiers. Palais National ist die unbedingte, aber
einfache Republik mit einer schwachen, oder versteckten Hinneigung zum Sozialis¬
mus bei einigen Mitgliedern; die gemäßigten Häupter der abgesetzten Vollziehuugs-
gewalt, Lamartine, Cremieux u.A. klammern sich an diese Partei, deren reinster
Ausdruck Marrast, deren feste Burg der schlichte biderbe Cavaignac ist. Rue Poi¬
tiers ist die alte Linke, ihr Vorkämpfer ist Thiers, aber auch sie hat einen tapfern
Degen auf ihrer Seite, den Kriegsminister General Lamoriciere. Im Palais
National finden sich vielleicht uneigennützigere Republikaner als Thiers, feurigere
Redner als Duvergier de Hauranne und geschicktere Agitatoren als Toqueville,
aber die staatsmännischen Kapacitäten überwiegen in der Rue Poitiers, die Ge¬
schäftsroutine ist jedenfalls größer auf selten der alten Linken. Frankreich aber
wird lange noch, selbst wenn ein freies Gemeindewesen ihm jetzt von der Consti¬
tuante bescheert würde, auf einen kleinen Kreis von „Möglichen" beschränkt
sein. Es gibt hier außer Paris keine Schule praktischer Politik und deshalb so wenig
Staatsmänner, die von Pik auf gedient haben. Daher ruft man in stürmischen
Zeiten, wo die Mäuner der Erfahrung verbraucht erscheinen, glänzende Stylisten,
Rhetoren oder Poeten an's Steuerruder, was für Literatur und Kunst sehr schmei¬
chelhaft, aber keine Bürgschaft für eine glückliche Fahrt ist.

Auch Thiers lernte am Barte Frankreichs scheeren, als die Julirevolution aus
dem Journalisten plötzlich einen Minister machte, aber er hat in den achtzehn Jah¬
ren, wenn auch Nichts (von seinen kleinen Geschicklichkeiten) vergessen, doch wirklich
viel gelernt, und in den parlamentarischen Schlachten, die er seit kaum einem
Monat schlug, entwickelte er eine so überlegene und gereifte Einsicht, daß all die
zischenden Stimmen des Mißtrauens, die sich gerechter Weise gegen den Bastillen-
erbauer und den Urheber der Septembergesetze zu erheben Pflegen, vor seiner kla¬
ren scharfen Beredtsamkeit verstummten und daß eine neue unglückliche Schild¬
erhebung der Socialisten unfehlbar ihn zum ersten, wo nicht einzig Möglichen
machen würde.

Zweimal hat Thiers in einem Bureau der Verfassungscommission und einmal


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[0219] die Zukunft'der Republik von Neuem befestigen, denn man weiß, daß bis jetzt die beiden parlamentarischen Hauptparteien nur über den Namen Republik einig sind, nicht über ihren Inhalt; ja Thiers und mit ihm das Gros der Bourgeoisie knüpft, wie er deutlich durchblicken ließ, seine Hingebung an die Republik an Bedingungen, welche in den Augen der Republikaner von gestern die nackteste Reaction sind. Diese Bedingungen heißen im Allgemeinen „die Prinzipien der Ordnung", im Besondern vollständiges Aufgeben aller socialistischen, oder wie er sich sarkastisch ausdrückt, aller antisocialen Bestrebungen und Experimente — und noch etwas mehr, sonst würde er blos die Proudhons, Blancs und Pages zu bekämpfen haben, nicht aber auch das Mißtrauen der Partei Marrast empfinden. Jene beiden Hauptparteien bezeichnet man nach ihren Versammlungsorten Palais National und Rue de Poitiers. Palais National ist die unbedingte, aber einfache Republik mit einer schwachen, oder versteckten Hinneigung zum Sozialis¬ mus bei einigen Mitgliedern; die gemäßigten Häupter der abgesetzten Vollziehuugs- gewalt, Lamartine, Cremieux u.A. klammern sich an diese Partei, deren reinster Ausdruck Marrast, deren feste Burg der schlichte biderbe Cavaignac ist. Rue Poi¬ tiers ist die alte Linke, ihr Vorkämpfer ist Thiers, aber auch sie hat einen tapfern Degen auf ihrer Seite, den Kriegsminister General Lamoriciere. Im Palais National finden sich vielleicht uneigennützigere Republikaner als Thiers, feurigere Redner als Duvergier de Hauranne und geschicktere Agitatoren als Toqueville, aber die staatsmännischen Kapacitäten überwiegen in der Rue Poitiers, die Ge¬ schäftsroutine ist jedenfalls größer auf selten der alten Linken. Frankreich aber wird lange noch, selbst wenn ein freies Gemeindewesen ihm jetzt von der Consti¬ tuante bescheert würde, auf einen kleinen Kreis von „Möglichen" beschränkt sein. Es gibt hier außer Paris keine Schule praktischer Politik und deshalb so wenig Staatsmänner, die von Pik auf gedient haben. Daher ruft man in stürmischen Zeiten, wo die Mäuner der Erfahrung verbraucht erscheinen, glänzende Stylisten, Rhetoren oder Poeten an's Steuerruder, was für Literatur und Kunst sehr schmei¬ chelhaft, aber keine Bürgschaft für eine glückliche Fahrt ist. Auch Thiers lernte am Barte Frankreichs scheeren, als die Julirevolution aus dem Journalisten plötzlich einen Minister machte, aber er hat in den achtzehn Jah¬ ren, wenn auch Nichts (von seinen kleinen Geschicklichkeiten) vergessen, doch wirklich viel gelernt, und in den parlamentarischen Schlachten, die er seit kaum einem Monat schlug, entwickelte er eine so überlegene und gereifte Einsicht, daß all die zischenden Stimmen des Mißtrauens, die sich gerechter Weise gegen den Bastillen- erbauer und den Urheber der Septembergesetze zu erheben Pflegen, vor seiner kla¬ ren scharfen Beredtsamkeit verstummten und daß eine neue unglückliche Schild¬ erhebung der Socialisten unfehlbar ihn zum ersten, wo nicht einzig Möglichen machen würde. Zweimal hat Thiers in einem Bureau der Verfassungscommission und einmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/219>, abgerufen am 26.06.2024.