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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band.

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Sue's Mysterien das Lieblingsbuch aller europäischen Kammerjungfern wurden,
machte auch die Berliner Poesie in der neuen Branche ihre Versuche. Sie fielen
schlecht aus, weil sie von ungeschickten Händen unternommen waren. Es trat aber
damals die Oeffentlichkeit der Gerichte ein und in der humoristisch-tragischen
Darstellungsweise des "Publicisten" wurde man dem Gegenstand gerecht. Damals
schrieb Bettine: "Dies Buch gehört dem Könige!" es war ein Raisonne-
ment über das Berliner Proletariat, wozu Bettinen's Freunde die ernsthaftesten
Vorstudien im Voigtland gemacht hatten. Das Buch wurde wenig gelesen, weil
es in der unnahbaren Weise der berühmten Verfasserin geschrieben war, aber man
sprach viel davon. Seitdem wurde das Berliner Proletariat ein stehendes Genre;
Saß gab ein ausführliches detaillirtes Gemälde; er hatte den Vorzug genauer
persönlicher Bekanntschaft. Mehr als Alle aber verbreitete sich Sucher's Buch
über die Prostitution. Wer sich so recht in der Poesie des Schmutzes -- der herr¬
schenden des neu romantischen Geschmackes -- wälzen wollte, fand hier den reich¬
sten Stoff; und er konnte dabei sein Gewissen mit der moralischen Absicht be¬
schwichtigen. Gardelieutenants und Communisten fanden sich hier auf einem neu¬
tralen Terrain.

Herr Stich er ist auch eine wesentliche Figur Berlins. Als ganz junger
Referendar in die geheime Polizei gezogen, Spion in der schlesischen Weberge-
schichtc, mehrfach angeklagt wegen Mißhandlung eingefangener Verbrecher, dar¬
auf plötzlich, bei Einführung des mündlichen Verfahrens, glücklicher Vertheidiger
unschuldiger oder schuldiger Angeklagter, rühriger Schriftsteller in der Vossischen
und andern Papieren, der Homer seiner eigenen Thaten; die Stütze der liberal
gesinnten, wohlwollenden Polizei in der Barrikadennacht, nicht ohne Aussicht auf
eine politische Carrivre; zuletzt Vorreiter oder Harlekin bei dem schwarz-roth-
goldnen Ritt des Königs durch die Linden -- bis endlich die Moralität Berlins
zum Durchbruch kam und ihn beseitigte -- ein lebendiges Bild des abenteuerlichen
Berlins, jener beständig rührigen Volkskraft, die unter der trügerischen Oberfläche
schlummert.

Man lasse sich nicht täuschen durch den heitern Anstrich, den die so zu sa¬
gen classisch gewordene Figur Rande's in der Darstellung eines Beckmann oder
Glaßbrenner annahm. Man kann über ihre Späße lachen, aber es ist in die¬
sem Witz eine Gemüthlosigkeit, eine rein formelle Negativität, die freilich zum
Haß zu wenig positiv ist, dagegen auch von Achtung und Neigung nichts weiß,
und sich darauf beschränkt, ihre zersetzende Kraft an allem Stofflichen auszuüben,
Es ist ein sieches, greisenhaftes Wesen, eine künstliche Lustigkeit. In den Eng¬
lischen Humoristen, wie Dickens, tritt hinter den Carricaturen die eingeborne Sen¬
timentalität oft genng in einer beleidigenden Breite hervor, allein eben diese
Sentimentalität ist doch nur der freilich unreife Ausdruck von der Anhänglichkeit
an etwas Positives. So ist es auch mit den östreichischen Possen, die Gemüth-


Sue's Mysterien das Lieblingsbuch aller europäischen Kammerjungfern wurden,
machte auch die Berliner Poesie in der neuen Branche ihre Versuche. Sie fielen
schlecht aus, weil sie von ungeschickten Händen unternommen waren. Es trat aber
damals die Oeffentlichkeit der Gerichte ein und in der humoristisch-tragischen
Darstellungsweise des „Publicisten" wurde man dem Gegenstand gerecht. Damals
schrieb Bettine: „Dies Buch gehört dem Könige!" es war ein Raisonne-
ment über das Berliner Proletariat, wozu Bettinen's Freunde die ernsthaftesten
Vorstudien im Voigtland gemacht hatten. Das Buch wurde wenig gelesen, weil
es in der unnahbaren Weise der berühmten Verfasserin geschrieben war, aber man
sprach viel davon. Seitdem wurde das Berliner Proletariat ein stehendes Genre;
Saß gab ein ausführliches detaillirtes Gemälde; er hatte den Vorzug genauer
persönlicher Bekanntschaft. Mehr als Alle aber verbreitete sich Sucher's Buch
über die Prostitution. Wer sich so recht in der Poesie des Schmutzes — der herr¬
schenden des neu romantischen Geschmackes — wälzen wollte, fand hier den reich¬
sten Stoff; und er konnte dabei sein Gewissen mit der moralischen Absicht be¬
schwichtigen. Gardelieutenants und Communisten fanden sich hier auf einem neu¬
tralen Terrain.

Herr Stich er ist auch eine wesentliche Figur Berlins. Als ganz junger
Referendar in die geheime Polizei gezogen, Spion in der schlesischen Weberge-
schichtc, mehrfach angeklagt wegen Mißhandlung eingefangener Verbrecher, dar¬
auf plötzlich, bei Einführung des mündlichen Verfahrens, glücklicher Vertheidiger
unschuldiger oder schuldiger Angeklagter, rühriger Schriftsteller in der Vossischen
und andern Papieren, der Homer seiner eigenen Thaten; die Stütze der liberal
gesinnten, wohlwollenden Polizei in der Barrikadennacht, nicht ohne Aussicht auf
eine politische Carrivre; zuletzt Vorreiter oder Harlekin bei dem schwarz-roth-
goldnen Ritt des Königs durch die Linden — bis endlich die Moralität Berlins
zum Durchbruch kam und ihn beseitigte — ein lebendiges Bild des abenteuerlichen
Berlins, jener beständig rührigen Volkskraft, die unter der trügerischen Oberfläche
schlummert.

Man lasse sich nicht täuschen durch den heitern Anstrich, den die so zu sa¬
gen classisch gewordene Figur Rande's in der Darstellung eines Beckmann oder
Glaßbrenner annahm. Man kann über ihre Späße lachen, aber es ist in die¬
sem Witz eine Gemüthlosigkeit, eine rein formelle Negativität, die freilich zum
Haß zu wenig positiv ist, dagegen auch von Achtung und Neigung nichts weiß,
und sich darauf beschränkt, ihre zersetzende Kraft an allem Stofflichen auszuüben,
Es ist ein sieches, greisenhaftes Wesen, eine künstliche Lustigkeit. In den Eng¬
lischen Humoristen, wie Dickens, tritt hinter den Carricaturen die eingeborne Sen¬
timentalität oft genng in einer beleidigenden Breite hervor, allein eben diese
Sentimentalität ist doch nur der freilich unreife Ausdruck von der Anhänglichkeit
an etwas Positives. So ist es auch mit den östreichischen Possen, die Gemüth-


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[0019] Sue's Mysterien das Lieblingsbuch aller europäischen Kammerjungfern wurden, machte auch die Berliner Poesie in der neuen Branche ihre Versuche. Sie fielen schlecht aus, weil sie von ungeschickten Händen unternommen waren. Es trat aber damals die Oeffentlichkeit der Gerichte ein und in der humoristisch-tragischen Darstellungsweise des „Publicisten" wurde man dem Gegenstand gerecht. Damals schrieb Bettine: „Dies Buch gehört dem Könige!" es war ein Raisonne- ment über das Berliner Proletariat, wozu Bettinen's Freunde die ernsthaftesten Vorstudien im Voigtland gemacht hatten. Das Buch wurde wenig gelesen, weil es in der unnahbaren Weise der berühmten Verfasserin geschrieben war, aber man sprach viel davon. Seitdem wurde das Berliner Proletariat ein stehendes Genre; Saß gab ein ausführliches detaillirtes Gemälde; er hatte den Vorzug genauer persönlicher Bekanntschaft. Mehr als Alle aber verbreitete sich Sucher's Buch über die Prostitution. Wer sich so recht in der Poesie des Schmutzes — der herr¬ schenden des neu romantischen Geschmackes — wälzen wollte, fand hier den reich¬ sten Stoff; und er konnte dabei sein Gewissen mit der moralischen Absicht be¬ schwichtigen. Gardelieutenants und Communisten fanden sich hier auf einem neu¬ tralen Terrain. Herr Stich er ist auch eine wesentliche Figur Berlins. Als ganz junger Referendar in die geheime Polizei gezogen, Spion in der schlesischen Weberge- schichtc, mehrfach angeklagt wegen Mißhandlung eingefangener Verbrecher, dar¬ auf plötzlich, bei Einführung des mündlichen Verfahrens, glücklicher Vertheidiger unschuldiger oder schuldiger Angeklagter, rühriger Schriftsteller in der Vossischen und andern Papieren, der Homer seiner eigenen Thaten; die Stütze der liberal gesinnten, wohlwollenden Polizei in der Barrikadennacht, nicht ohne Aussicht auf eine politische Carrivre; zuletzt Vorreiter oder Harlekin bei dem schwarz-roth- goldnen Ritt des Königs durch die Linden — bis endlich die Moralität Berlins zum Durchbruch kam und ihn beseitigte — ein lebendiges Bild des abenteuerlichen Berlins, jener beständig rührigen Volkskraft, die unter der trügerischen Oberfläche schlummert. Man lasse sich nicht täuschen durch den heitern Anstrich, den die so zu sa¬ gen classisch gewordene Figur Rande's in der Darstellung eines Beckmann oder Glaßbrenner annahm. Man kann über ihre Späße lachen, aber es ist in die¬ sem Witz eine Gemüthlosigkeit, eine rein formelle Negativität, die freilich zum Haß zu wenig positiv ist, dagegen auch von Achtung und Neigung nichts weiß, und sich darauf beschränkt, ihre zersetzende Kraft an allem Stofflichen auszuüben, Es ist ein sieches, greisenhaftes Wesen, eine künstliche Lustigkeit. In den Eng¬ lischen Humoristen, wie Dickens, tritt hinter den Carricaturen die eingeborne Sen¬ timentalität oft genng in einer beleidigenden Breite hervor, allein eben diese Sentimentalität ist doch nur der freilich unreife Ausdruck von der Anhänglichkeit an etwas Positives. So ist es auch mit den östreichischen Possen, die Gemüth-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_277429/19>, abgerufen am 26.06.2024.