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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Eine der besteingerichteten Maschinen im Umfange des alten Staatenbundes
war der Staat Hessen-Darmstadt, aber die Märzrevolution griff hemmend und
zerstörend in das Räderwerk der Verwaltung ein und es galt einen lebendigen
Organismus an die Stelle der zerstörten Maschine zu setzen. Das Ministerium
Gagern leitete eine neue Organisation ein, und die Gemeinden zur Selbstregie¬
rung heranzuziehen, wurde ein Schritt vorwärts gethan durch das nun ins Leben
getretene Institut des Bezirks raths. Der Verfasser des oben angezogenen
Entwurfs wird diesem Institute, das wir sogleich näher besprechen werden, den
Vorwurf einer halben Maßregel machen, und, zum Theil mit Recht, wer aber
weiß, wie durch das alte System alles rege Gemeindelebeu ertödtet wurde, wird
erkennen, daß wir doch einen Boden gewinnen mußten, auf dem die zarte Pflanze
eines sich erneuerten Volkslebens Gedeihen finden konnte. Gegen die bisherige
Verwaltungsorganisation herrschte im ganze Lande die tiefste Abneigung; sie war
bureaukratisch mit unmittelbarer Unterordnung der Einzelbeamten unter das Mini¬
sterium; diese Einzelbeamten nahmen vermöge ihrer ausgedehnten Befugnisse und
ihres unmittelbaren Verhältnisses zum Ministerium eine Stellung ein, die es auch
ehrenwerthen Männern schwer machte, zur Befriedigung der Kreisbewohncr ihr
Amt zu verwalten, die Wenigsten waren durch allseitige Integrität ihrer Amts¬
führung geeignet, sich im allgemeinen Vertrauen zu erhalten, und Gagern erklärte,
daß, obwohl er für die erste Instanz der Verwaltung zur Erzielung eines ein¬
fachen Geschäftsganges das büreaukratische System dem collegialischen vorziehe, er
es für nöthig erachte um der allgemeinen Mißstimmung zu begegnen, an die
Stelle der Einzelbeamten Kollegien treten zu lassen, um in der Solidarität
der Mitglieder eine Garantie gegen Beamtenübergriffe bieten zu können. Den
zehn Regierungen, die nun das Land verwalten, ist je ein Bezirksrath zugesellt.
Er besteht aus höchstens 24, mindestens 12 Mitgliedern, von denen alle zwei
Jahre ein Drittel austritt; er wird aus den zum Bezirke gehörigen Gemeinden
gewählt; stimmfähig und wählbar ist jeder Einwohner des Bezirks, der die Staats¬
bürgerrechte genießt. Behufs der Wahl werden die Regierungsbezirke in Wahl-
districte eingetheilt und jeder District zur Wahl einer mit seiner Bevölkerung in
Verhältniß stehenden Zahl von Räthen berechtigt. Das Amt eines Mitgliedes
des Bezirksraths ist ein Ehrenamt ohne Anspruch auf Tagegelder oder Reisever¬
gütung. Der Bezirksrath ist berufen >) zur Entscheidung über die Verbindlichkeit
einer Gemeinde zu einer Ausgabe, welche im öffentlichen Interesse von der Regie¬
rungsbehörde einer Gemeinde angesonnen, von dieser aber abgelehnt wurde. 2) Zur
Entscheidung über die Zulässigkeit eiuer Ausgabe, welche vou einer Gemeinde be¬
schlossen, von der Regierungsbehörde aber beanstandet wurde. 3) Zur Entscheidung
über Streitigkeiten zwischen Gemeinden wegen streitiger Abgaben. 4) Zur Entschei¬
dung über Bürgeraufnahmen, welche von Gemeinden verweigert sind, auf Recurs
der Betheiligten; ferner zur Begutachtung bei Streitigkeiten über Gewerkungs-


Eine der besteingerichteten Maschinen im Umfange des alten Staatenbundes
war der Staat Hessen-Darmstadt, aber die Märzrevolution griff hemmend und
zerstörend in das Räderwerk der Verwaltung ein und es galt einen lebendigen
Organismus an die Stelle der zerstörten Maschine zu setzen. Das Ministerium
Gagern leitete eine neue Organisation ein, und die Gemeinden zur Selbstregie¬
rung heranzuziehen, wurde ein Schritt vorwärts gethan durch das nun ins Leben
getretene Institut des Bezirks raths. Der Verfasser des oben angezogenen
Entwurfs wird diesem Institute, das wir sogleich näher besprechen werden, den
Vorwurf einer halben Maßregel machen, und, zum Theil mit Recht, wer aber
weiß, wie durch das alte System alles rege Gemeindelebeu ertödtet wurde, wird
erkennen, daß wir doch einen Boden gewinnen mußten, auf dem die zarte Pflanze
eines sich erneuerten Volkslebens Gedeihen finden konnte. Gegen die bisherige
Verwaltungsorganisation herrschte im ganze Lande die tiefste Abneigung; sie war
bureaukratisch mit unmittelbarer Unterordnung der Einzelbeamten unter das Mini¬
sterium; diese Einzelbeamten nahmen vermöge ihrer ausgedehnten Befugnisse und
ihres unmittelbaren Verhältnisses zum Ministerium eine Stellung ein, die es auch
ehrenwerthen Männern schwer machte, zur Befriedigung der Kreisbewohncr ihr
Amt zu verwalten, die Wenigsten waren durch allseitige Integrität ihrer Amts¬
führung geeignet, sich im allgemeinen Vertrauen zu erhalten, und Gagern erklärte,
daß, obwohl er für die erste Instanz der Verwaltung zur Erzielung eines ein¬
fachen Geschäftsganges das büreaukratische System dem collegialischen vorziehe, er
es für nöthig erachte um der allgemeinen Mißstimmung zu begegnen, an die
Stelle der Einzelbeamten Kollegien treten zu lassen, um in der Solidarität
der Mitglieder eine Garantie gegen Beamtenübergriffe bieten zu können. Den
zehn Regierungen, die nun das Land verwalten, ist je ein Bezirksrath zugesellt.
Er besteht aus höchstens 24, mindestens 12 Mitgliedern, von denen alle zwei
Jahre ein Drittel austritt; er wird aus den zum Bezirke gehörigen Gemeinden
gewählt; stimmfähig und wählbar ist jeder Einwohner des Bezirks, der die Staats¬
bürgerrechte genießt. Behufs der Wahl werden die Regierungsbezirke in Wahl-
districte eingetheilt und jeder District zur Wahl einer mit seiner Bevölkerung in
Verhältniß stehenden Zahl von Räthen berechtigt. Das Amt eines Mitgliedes
des Bezirksraths ist ein Ehrenamt ohne Anspruch auf Tagegelder oder Reisever¬
gütung. Der Bezirksrath ist berufen >) zur Entscheidung über die Verbindlichkeit
einer Gemeinde zu einer Ausgabe, welche im öffentlichen Interesse von der Regie¬
rungsbehörde einer Gemeinde angesonnen, von dieser aber abgelehnt wurde. 2) Zur
Entscheidung über die Zulässigkeit eiuer Ausgabe, welche vou einer Gemeinde be¬
schlossen, von der Regierungsbehörde aber beanstandet wurde. 3) Zur Entscheidung
über Streitigkeiten zwischen Gemeinden wegen streitiger Abgaben. 4) Zur Entschei¬
dung über Bürgeraufnahmen, welche von Gemeinden verweigert sind, auf Recurs
der Betheiligten; ferner zur Begutachtung bei Streitigkeiten über Gewerkungs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/303>, abgerufen am 22.07.2024.