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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Schiller zu sprechen, aus dem naiven in's Sentimentale, d. h. in's Reflectirte
übersetzt.

Christus appellirt in Beziehung auf seine göttliche Mission beständig an den
Glauben, d. h. das unmittelbare Wissen: der Idee nach ein großer Fortschritt
gegen das argwöhnische Verhalten der frühern Juden zu Gott; aber in der Wirk¬
lichkeit sieht er sich doch beständig veranlaßt, theils Zeichen und Wunder zu thun,
theils Aussprüche der Propheten über den erwarteten Messias bis auf die kleinsten
Details, z. B. Eselsritt, Loosen um die Kleider u. dergl. in seinem Schicksal zu
realisiren. Er ist sodann, als Gott, die Macht über die Natur, aber er gebraucht
doch meist elementare Mittel, er schmiert den Blinden etwas auf die Augen u. s. w.,
wenn er auch in einzelnen Geschichten die Konsequenz hat, entweder durch Ver¬
mittelung des subjectiven Glaubens (wie bei Petri Meerfahrt) oder durch sein
bloßes Wort (wie bei Lazarus) Wunder zu thun. In andern Geschichten macht
sich die jüdische Detail-Gewissenhaftigkeit auf eine wahrhaft burleske Weise gel¬
tend. Er treibt einem Besessenen den Teufel aus; nnn fragt der gewissenhafte
Jude: wo bleibt dieser Teufel? in's Blaue hinein, wie in der modernen Roman¬
tik, wäre zu unbestimmt, also eine Heerde Schweine geht vorüber und der Teufel
muß hinein. Durch ähnliche Züge kommt in Christus' der Anlagen nach erhabe¬
nen Charakter, eine gewisse ironische Bonhommie hinein, die in den späteren Le¬
genden öfters recht poetisch wieder gegeben ist. So sind seine Antworten an die
Sophisten und Doctrinärs seiner Zeit zuweilen von unbezahlbarem Humor; gegen
diese hohle Existenzen wendet er die Ironie ihres eigenen Wesens. Wenn der So¬
phist ihn versucht: soll man dem Kaiser Zins zahlen? so antwortet er: was ist
auf dem Groschen für ein Bild? des Kaisers? also gib dem Kaiser, was des
Kaisers ist. Ist das eine Antwort? es ist ein bloßer Witz, der aber dein So¬
phisten imponirt. Bei uns wird die Antwort nur für Thaler und Silbergroschen
gelten; auf Viergroschenstücke z. B. hätte sie keine Anwendung. Davon will ich
gar nicht reden, daß ans den eigentlichen Sinn des Zinses dabei gar nicht einge¬
gangen wird. Wenn man ihn fragt, ob die Sünderin gesteinigt werden soll, so
sagt er: wer ohne Sünde ist, soll den ersten Stein aufheben. Das ist wieder
Ironie, er thut so, als ob es uun losgehen sollte, aber er weiß im Stillen: ihr
seid alle Spitzbuben, also wird nichts geschehen. Er appellirt an ein Factum;
aus die innere Idee der Zurechnungsfähigkeit geht er nicht ein. So weiß er häufig
die bestimmte Antwort zu umgehn, und sein Ausspruch: seid klug wie die Schlan¬
gen und einfältig wie die Tauben -- das erste in der Praxis, das zweite in der
Abstraction, dem Glauben -- findet in diesem Wesen seine Erklärung und Berech¬
tigung. --

"Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!" läßt der Evangelist den vom
Geist erfüllten Sohn zu seiner Mutter sagen. Eine ungeheure Abstraction, na¬
mentlich für die Juden, bei denen die Heiligkeit des Familienlebens alles andere-


Schiller zu sprechen, aus dem naiven in's Sentimentale, d. h. in's Reflectirte
übersetzt.

Christus appellirt in Beziehung auf seine göttliche Mission beständig an den
Glauben, d. h. das unmittelbare Wissen: der Idee nach ein großer Fortschritt
gegen das argwöhnische Verhalten der frühern Juden zu Gott; aber in der Wirk¬
lichkeit sieht er sich doch beständig veranlaßt, theils Zeichen und Wunder zu thun,
theils Aussprüche der Propheten über den erwarteten Messias bis auf die kleinsten
Details, z. B. Eselsritt, Loosen um die Kleider u. dergl. in seinem Schicksal zu
realisiren. Er ist sodann, als Gott, die Macht über die Natur, aber er gebraucht
doch meist elementare Mittel, er schmiert den Blinden etwas auf die Augen u. s. w.,
wenn er auch in einzelnen Geschichten die Konsequenz hat, entweder durch Ver¬
mittelung des subjectiven Glaubens (wie bei Petri Meerfahrt) oder durch sein
bloßes Wort (wie bei Lazarus) Wunder zu thun. In andern Geschichten macht
sich die jüdische Detail-Gewissenhaftigkeit auf eine wahrhaft burleske Weise gel¬
tend. Er treibt einem Besessenen den Teufel aus; nnn fragt der gewissenhafte
Jude: wo bleibt dieser Teufel? in's Blaue hinein, wie in der modernen Roman¬
tik, wäre zu unbestimmt, also eine Heerde Schweine geht vorüber und der Teufel
muß hinein. Durch ähnliche Züge kommt in Christus' der Anlagen nach erhabe¬
nen Charakter, eine gewisse ironische Bonhommie hinein, die in den späteren Le¬
genden öfters recht poetisch wieder gegeben ist. So sind seine Antworten an die
Sophisten und Doctrinärs seiner Zeit zuweilen von unbezahlbarem Humor; gegen
diese hohle Existenzen wendet er die Ironie ihres eigenen Wesens. Wenn der So¬
phist ihn versucht: soll man dem Kaiser Zins zahlen? so antwortet er: was ist
auf dem Groschen für ein Bild? des Kaisers? also gib dem Kaiser, was des
Kaisers ist. Ist das eine Antwort? es ist ein bloßer Witz, der aber dein So¬
phisten imponirt. Bei uns wird die Antwort nur für Thaler und Silbergroschen
gelten; auf Viergroschenstücke z. B. hätte sie keine Anwendung. Davon will ich
gar nicht reden, daß ans den eigentlichen Sinn des Zinses dabei gar nicht einge¬
gangen wird. Wenn man ihn fragt, ob die Sünderin gesteinigt werden soll, so
sagt er: wer ohne Sünde ist, soll den ersten Stein aufheben. Das ist wieder
Ironie, er thut so, als ob es uun losgehen sollte, aber er weiß im Stillen: ihr
seid alle Spitzbuben, also wird nichts geschehen. Er appellirt an ein Factum;
aus die innere Idee der Zurechnungsfähigkeit geht er nicht ein. So weiß er häufig
die bestimmte Antwort zu umgehn, und sein Ausspruch: seid klug wie die Schlan¬
gen und einfältig wie die Tauben — das erste in der Praxis, das zweite in der
Abstraction, dem Glauben — findet in diesem Wesen seine Erklärung und Berech¬
tigung. —

„Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!" läßt der Evangelist den vom
Geist erfüllten Sohn zu seiner Mutter sagen. Eine ungeheure Abstraction, na¬
mentlich für die Juden, bei denen die Heiligkeit des Familienlebens alles andere-


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[0026] Schiller zu sprechen, aus dem naiven in's Sentimentale, d. h. in's Reflectirte übersetzt. Christus appellirt in Beziehung auf seine göttliche Mission beständig an den Glauben, d. h. das unmittelbare Wissen: der Idee nach ein großer Fortschritt gegen das argwöhnische Verhalten der frühern Juden zu Gott; aber in der Wirk¬ lichkeit sieht er sich doch beständig veranlaßt, theils Zeichen und Wunder zu thun, theils Aussprüche der Propheten über den erwarteten Messias bis auf die kleinsten Details, z. B. Eselsritt, Loosen um die Kleider u. dergl. in seinem Schicksal zu realisiren. Er ist sodann, als Gott, die Macht über die Natur, aber er gebraucht doch meist elementare Mittel, er schmiert den Blinden etwas auf die Augen u. s. w., wenn er auch in einzelnen Geschichten die Konsequenz hat, entweder durch Ver¬ mittelung des subjectiven Glaubens (wie bei Petri Meerfahrt) oder durch sein bloßes Wort (wie bei Lazarus) Wunder zu thun. In andern Geschichten macht sich die jüdische Detail-Gewissenhaftigkeit auf eine wahrhaft burleske Weise gel¬ tend. Er treibt einem Besessenen den Teufel aus; nnn fragt der gewissenhafte Jude: wo bleibt dieser Teufel? in's Blaue hinein, wie in der modernen Roman¬ tik, wäre zu unbestimmt, also eine Heerde Schweine geht vorüber und der Teufel muß hinein. Durch ähnliche Züge kommt in Christus' der Anlagen nach erhabe¬ nen Charakter, eine gewisse ironische Bonhommie hinein, die in den späteren Le¬ genden öfters recht poetisch wieder gegeben ist. So sind seine Antworten an die Sophisten und Doctrinärs seiner Zeit zuweilen von unbezahlbarem Humor; gegen diese hohle Existenzen wendet er die Ironie ihres eigenen Wesens. Wenn der So¬ phist ihn versucht: soll man dem Kaiser Zins zahlen? so antwortet er: was ist auf dem Groschen für ein Bild? des Kaisers? also gib dem Kaiser, was des Kaisers ist. Ist das eine Antwort? es ist ein bloßer Witz, der aber dein So¬ phisten imponirt. Bei uns wird die Antwort nur für Thaler und Silbergroschen gelten; auf Viergroschenstücke z. B. hätte sie keine Anwendung. Davon will ich gar nicht reden, daß ans den eigentlichen Sinn des Zinses dabei gar nicht einge¬ gangen wird. Wenn man ihn fragt, ob die Sünderin gesteinigt werden soll, so sagt er: wer ohne Sünde ist, soll den ersten Stein aufheben. Das ist wieder Ironie, er thut so, als ob es uun losgehen sollte, aber er weiß im Stillen: ihr seid alle Spitzbuben, also wird nichts geschehen. Er appellirt an ein Factum; aus die innere Idee der Zurechnungsfähigkeit geht er nicht ein. So weiß er häufig die bestimmte Antwort zu umgehn, und sein Ausspruch: seid klug wie die Schlan¬ gen und einfältig wie die Tauben — das erste in der Praxis, das zweite in der Abstraction, dem Glauben — findet in diesem Wesen seine Erklärung und Berech¬ tigung. — „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!" läßt der Evangelist den vom Geist erfüllten Sohn zu seiner Mutter sagen. Eine ungeheure Abstraction, na¬ mentlich für die Juden, bei denen die Heiligkeit des Familienlebens alles andere-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/26>, abgerufen am 28.09.2024.