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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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' Wir heben aus dem Regierungsentwurf einige -Punkte heraus: "Alle Ein¬
wohner des Gemeindebezirks gehören zur Gemeinde. Die bisherigen Unterschiede
zwischen Klassen der Einwohner (Bürger, Schutzverwandte, Beisassen u. s. w.) siud
aufgehoben. Alle Einwohner sind zur Mitbenutzung der Gemeindeanstalten berechtigt
und zur Theilnahme an den Gemeindelasten verpflichtet. Jeder mündige Preuße,
welcher nicht in Folge vollgiltigen richterlichen Spruches seine Staatsbürgerrechte
entbehrt, ist zu allen Gemeindeämtern mählbar."

Das ist ungeschickt, das wäre Zerstörung des GcmeiudelebenS, wenn es con-
sequent durchgeführt würde. Die Definition des Begriffs "Einwohner" ist im
preußischen Recht so ungenau, daß die meisten der Gemeindegeuossen, welche in
der vorigen Nummer dieses Blattes als indirecte bezeichnet sind, zu denselben ge¬
rechnet werden müssen. Aber die Regierung empfand das Bedenkliche der obigen
Bestimmungen und suchte dem Uebelstand durch eben so ungeschickte Beschränkungen
abzuhelfen. Sie nimmt nämlich 1) von den gemeinsamen Rechten Aller das eine
Recht aus, in Gemeindeangelegenheiten zu wählen und macht es abhängig vou
einem Minimum des Grundbesitzes oder jährlichen Einkommens. Dies Minimum
beträgt je uach der Größe der Gemeinde beim Grundbesitz 2 bis 500 Thaler, beim
Einkommen 150 bis 200 Thaler für die Familie; eine Ermäßigung dieser Sätze soll
da eintreten, wo durch diese Bestimmung mehr als die Hälfte der majorennen
Männer des Ortes ihr Wählerrecht verlieren müßten. -- Diese Beschränkung ist
verletzend, weil ihr nur ein, freilich natürliches Mißtrauen, kein vernünftiges
Prinzip zu Gründe liegt, sie hat sich außerdem schon bei der alten Städteordnung
als uupractisch bewiesen. Denn in den wenigsten Fällen läßt sich mit Sicherheit
ermitteln, ob ein Haushalt durch reines Einkommen von 120 oder 150 Thaler
erhalten wird, das ist abhängig von den Conjunctnren einer Zeit, und derselbe
Handwerker, der in einem Jahr 300 Thaler verdient, muß sich im nächsten viel¬
leicht mit 100 behelfen. Auf dem Lande wird das Wcihlerrccht oft von den Ge¬
treidepreisen des vergangenen Jahres abhängen n. s. w. So ist eines der wich¬
tigsten Rechte der ungefähren Schätzung, der Willkür, dem Zufall unterworfen.
Das ist schwächlich, das ist unmöglich, die Rechte eines Mannes müssen stehn,
wie die Sonne des Himmels, er muß mit Sicherheit ans sie zählen können unter
allen Umständen zu jeder Zeit. Hätte der Entwurf scharfsinniger geprüft, wem
die Rechte der Mitgliedschaft in einer Gemeinde zukommen dürfen, so hätte er
anch die Armen ehren können, denen sie zukonmieu müssen. Durch denselben
Fehler ist 2) bei allen Gemeinden der Regierung die Bestätigung der Wahl des
Dirigenten (Bürgermeisters) eingeräumt worden, allerdings ist sie nur nach An¬
hörung des Bezirksausschusses zu versagen. Aber auch diese Concession vermag
nicht für den Uebelstand zu entschädigen, daß die Entwicklung eines gesunden
Selbstgefühls der Gemeinden gestört wird. Und dieser Bezirksausschuß selbst,
wir fürchtender wird sich als uupractisches Institut erweisen! Bei den Gemeinden


' Wir heben aus dem Regierungsentwurf einige -Punkte heraus: „Alle Ein¬
wohner des Gemeindebezirks gehören zur Gemeinde. Die bisherigen Unterschiede
zwischen Klassen der Einwohner (Bürger, Schutzverwandte, Beisassen u. s. w.) siud
aufgehoben. Alle Einwohner sind zur Mitbenutzung der Gemeindeanstalten berechtigt
und zur Theilnahme an den Gemeindelasten verpflichtet. Jeder mündige Preuße,
welcher nicht in Folge vollgiltigen richterlichen Spruches seine Staatsbürgerrechte
entbehrt, ist zu allen Gemeindeämtern mählbar."

Das ist ungeschickt, das wäre Zerstörung des GcmeiudelebenS, wenn es con-
sequent durchgeführt würde. Die Definition des Begriffs „Einwohner" ist im
preußischen Recht so ungenau, daß die meisten der Gemeindegeuossen, welche in
der vorigen Nummer dieses Blattes als indirecte bezeichnet sind, zu denselben ge¬
rechnet werden müssen. Aber die Regierung empfand das Bedenkliche der obigen
Bestimmungen und suchte dem Uebelstand durch eben so ungeschickte Beschränkungen
abzuhelfen. Sie nimmt nämlich 1) von den gemeinsamen Rechten Aller das eine
Recht aus, in Gemeindeangelegenheiten zu wählen und macht es abhängig vou
einem Minimum des Grundbesitzes oder jährlichen Einkommens. Dies Minimum
beträgt je uach der Größe der Gemeinde beim Grundbesitz 2 bis 500 Thaler, beim
Einkommen 150 bis 200 Thaler für die Familie; eine Ermäßigung dieser Sätze soll
da eintreten, wo durch diese Bestimmung mehr als die Hälfte der majorennen
Männer des Ortes ihr Wählerrecht verlieren müßten. — Diese Beschränkung ist
verletzend, weil ihr nur ein, freilich natürliches Mißtrauen, kein vernünftiges
Prinzip zu Gründe liegt, sie hat sich außerdem schon bei der alten Städteordnung
als uupractisch bewiesen. Denn in den wenigsten Fällen läßt sich mit Sicherheit
ermitteln, ob ein Haushalt durch reines Einkommen von 120 oder 150 Thaler
erhalten wird, das ist abhängig von den Conjunctnren einer Zeit, und derselbe
Handwerker, der in einem Jahr 300 Thaler verdient, muß sich im nächsten viel¬
leicht mit 100 behelfen. Auf dem Lande wird das Wcihlerrccht oft von den Ge¬
treidepreisen des vergangenen Jahres abhängen n. s. w. So ist eines der wich¬
tigsten Rechte der ungefähren Schätzung, der Willkür, dem Zufall unterworfen.
Das ist schwächlich, das ist unmöglich, die Rechte eines Mannes müssen stehn,
wie die Sonne des Himmels, er muß mit Sicherheit ans sie zählen können unter
allen Umständen zu jeder Zeit. Hätte der Entwurf scharfsinniger geprüft, wem
die Rechte der Mitgliedschaft in einer Gemeinde zukommen dürfen, so hätte er
anch die Armen ehren können, denen sie zukonmieu müssen. Durch denselben
Fehler ist 2) bei allen Gemeinden der Regierung die Bestätigung der Wahl des
Dirigenten (Bürgermeisters) eingeräumt worden, allerdings ist sie nur nach An¬
hörung des Bezirksausschusses zu versagen. Aber auch diese Concession vermag
nicht für den Uebelstand zu entschädigen, daß die Entwicklung eines gesunden
Selbstgefühls der Gemeinden gestört wird. Und dieser Bezirksausschuß selbst,
wir fürchtender wird sich als uupractisches Institut erweisen! Bei den Gemeinden


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[0101] ' Wir heben aus dem Regierungsentwurf einige -Punkte heraus: „Alle Ein¬ wohner des Gemeindebezirks gehören zur Gemeinde. Die bisherigen Unterschiede zwischen Klassen der Einwohner (Bürger, Schutzverwandte, Beisassen u. s. w.) siud aufgehoben. Alle Einwohner sind zur Mitbenutzung der Gemeindeanstalten berechtigt und zur Theilnahme an den Gemeindelasten verpflichtet. Jeder mündige Preuße, welcher nicht in Folge vollgiltigen richterlichen Spruches seine Staatsbürgerrechte entbehrt, ist zu allen Gemeindeämtern mählbar." Das ist ungeschickt, das wäre Zerstörung des GcmeiudelebenS, wenn es con- sequent durchgeführt würde. Die Definition des Begriffs „Einwohner" ist im preußischen Recht so ungenau, daß die meisten der Gemeindegeuossen, welche in der vorigen Nummer dieses Blattes als indirecte bezeichnet sind, zu denselben ge¬ rechnet werden müssen. Aber die Regierung empfand das Bedenkliche der obigen Bestimmungen und suchte dem Uebelstand durch eben so ungeschickte Beschränkungen abzuhelfen. Sie nimmt nämlich 1) von den gemeinsamen Rechten Aller das eine Recht aus, in Gemeindeangelegenheiten zu wählen und macht es abhängig vou einem Minimum des Grundbesitzes oder jährlichen Einkommens. Dies Minimum beträgt je uach der Größe der Gemeinde beim Grundbesitz 2 bis 500 Thaler, beim Einkommen 150 bis 200 Thaler für die Familie; eine Ermäßigung dieser Sätze soll da eintreten, wo durch diese Bestimmung mehr als die Hälfte der majorennen Männer des Ortes ihr Wählerrecht verlieren müßten. — Diese Beschränkung ist verletzend, weil ihr nur ein, freilich natürliches Mißtrauen, kein vernünftiges Prinzip zu Gründe liegt, sie hat sich außerdem schon bei der alten Städteordnung als uupractisch bewiesen. Denn in den wenigsten Fällen läßt sich mit Sicherheit ermitteln, ob ein Haushalt durch reines Einkommen von 120 oder 150 Thaler erhalten wird, das ist abhängig von den Conjunctnren einer Zeit, und derselbe Handwerker, der in einem Jahr 300 Thaler verdient, muß sich im nächsten viel¬ leicht mit 100 behelfen. Auf dem Lande wird das Wcihlerrccht oft von den Ge¬ treidepreisen des vergangenen Jahres abhängen n. s. w. So ist eines der wich¬ tigsten Rechte der ungefähren Schätzung, der Willkür, dem Zufall unterworfen. Das ist schwächlich, das ist unmöglich, die Rechte eines Mannes müssen stehn, wie die Sonne des Himmels, er muß mit Sicherheit ans sie zählen können unter allen Umständen zu jeder Zeit. Hätte der Entwurf scharfsinniger geprüft, wem die Rechte der Mitgliedschaft in einer Gemeinde zukommen dürfen, so hätte er anch die Armen ehren können, denen sie zukonmieu müssen. Durch denselben Fehler ist 2) bei allen Gemeinden der Regierung die Bestätigung der Wahl des Dirigenten (Bürgermeisters) eingeräumt worden, allerdings ist sie nur nach An¬ hörung des Bezirksausschusses zu versagen. Aber auch diese Concession vermag nicht für den Uebelstand zu entschädigen, daß die Entwicklung eines gesunden Selbstgefühls der Gemeinden gestört wird. Und dieser Bezirksausschuß selbst, wir fürchtender wird sich als uupractisches Institut erweisen! Bei den Gemeinden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/101>, abgerufen am 26.12.2024.