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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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wenigen Stunden war der Kern der Stadt zur uneinnehmbaren Beste verschanzt.
Nun stellte Radetzky seine Truppen auf einem offenen Glacis zwischen Stadt und
Citadelle auf, wo sie den Flinten der Anführer eine bequeme Scheibe boten, ohne
selbst einen gleichen Zielpunkt zu haben. Zuletzt mußte sich Radetzky in die Ci¬
tadelle zurückziehen. Diese beherrscht die Stadt nicht; sie liegt auf einem Niveau
mit ihr. Die kaiserlichen Kanonen spielten also nur gegen die verbarrikadüten
Straßen, die auf die Citadelle münden. Vom Sonnabend bis zur Mittwoch
währte dieses Scharmützeln, unter häufigen Pausen, fort; die Stadt zu bombar-
diren konnte oder wollte der Feldmarschall nicht wagen. Indessen hatten die In¬
surgenten durch kleine Luftballons Proclamationen über das Weichbild der Stadt
geworfen, der Landsturm erhob sich von allen Seiten, Radetzky konnte abgeschnit¬
ten und ausgehungert werden -- denn es fehlte, merkwürdiger Weise, an Schieß-
nnd Mundvorrath in der Beste -- er zog also in stiller Nacht mit seinen Trup¬
pen ab und Mailand wurde frei, ohne, wie die ersten Berichte erzählten, ein
zweites Saragossa geworden zu sein.

Die wesentlichsten und wichtigsten Züge an diesem Ereigniß sind, daß die
Bürger Mailands ohne französische oder sardinische Hilfe eine mächtige und tapfere
Besatzung vertreiben konnte", ferner daß noch einige andere Vorurtheile Lügen ge¬
straft wurden, mit denen sich das Wiener Cabinet lange in Schlaf gelullt hatte.
Der lombardische Bauer, scheint es, sah in der östreichischen Regierung nicht seinen
Schutzpatron gegen den Druck der Städter, wie man vor einigen Monaten glaubte,
warum hätte er sonst sich so rasch zum Landsturm erhoben? und die lombardischen
Nobili wollten sich nicht aus Scheu vor den republikanischen Ideen enger an
Oestreich anschließen, wie man ans Wien vor einigen Wochen nach allen Welt¬
gegenden schrieb. Wer die Stellung des italienischen Adels und seine Verschie¬
denheit von unserer nordischen Aristokratie kennt, mußte jene Wiener Nachricht
überhaupt mit Kopfschütteln aufnehmen. Nobili und Facchini, Geistliche und
Laien, Alles focht brüderlich neben einander gegen die Besatzung; ohne verabre¬
deten Plan, ohne Führer und Commando, organisirte sich der Aufstand aus den-
Stegreif und von selbst. Der Times-Correspondent behauptet, ein schöneres Schau¬
spiel sei undenkbar als diese Volkserhebung, die, ungleich vielen Revolutionen,
völlig rein blieb von Parteimanövern und Intriguen; wo kein Stand den andern
vorschob, um die Kastanien für ihn aus dem Feuer zu holen; wo keine VoM-
klasse gegen die andere gehetzt wurde und kein Geschlecht, Alter oder Beruf im
Gefechte zurückblieb. Es war eben keine Revolution, es hatte keinen einzigen
Zug von Bürgerkrieg: es war ein Nationalkrieg gegen ein fremdes Joch und da¬
her von all' jenen wunderbaren Erscheinungen begleitet, die solchen Kriegen eigen
sind. Der größte Theil der mailändischen Waffen bestand in Vogelflinten und
Pistolen. Zum Barrikadenbau gaben die Reichen ihre schönsten Equipagen her
und die vornehmsten Frauen ihre Pianos, Harfen und Schachteln, die, um


Grenzboten. II. 1""". ^

wenigen Stunden war der Kern der Stadt zur uneinnehmbaren Beste verschanzt.
Nun stellte Radetzky seine Truppen auf einem offenen Glacis zwischen Stadt und
Citadelle auf, wo sie den Flinten der Anführer eine bequeme Scheibe boten, ohne
selbst einen gleichen Zielpunkt zu haben. Zuletzt mußte sich Radetzky in die Ci¬
tadelle zurückziehen. Diese beherrscht die Stadt nicht; sie liegt auf einem Niveau
mit ihr. Die kaiserlichen Kanonen spielten also nur gegen die verbarrikadüten
Straßen, die auf die Citadelle münden. Vom Sonnabend bis zur Mittwoch
währte dieses Scharmützeln, unter häufigen Pausen, fort; die Stadt zu bombar-
diren konnte oder wollte der Feldmarschall nicht wagen. Indessen hatten die In¬
surgenten durch kleine Luftballons Proclamationen über das Weichbild der Stadt
geworfen, der Landsturm erhob sich von allen Seiten, Radetzky konnte abgeschnit¬
ten und ausgehungert werden — denn es fehlte, merkwürdiger Weise, an Schieß-
nnd Mundvorrath in der Beste — er zog also in stiller Nacht mit seinen Trup¬
pen ab und Mailand wurde frei, ohne, wie die ersten Berichte erzählten, ein
zweites Saragossa geworden zu sein.

Die wesentlichsten und wichtigsten Züge an diesem Ereigniß sind, daß die
Bürger Mailands ohne französische oder sardinische Hilfe eine mächtige und tapfere
Besatzung vertreiben konnte», ferner daß noch einige andere Vorurtheile Lügen ge¬
straft wurden, mit denen sich das Wiener Cabinet lange in Schlaf gelullt hatte.
Der lombardische Bauer, scheint es, sah in der östreichischen Regierung nicht seinen
Schutzpatron gegen den Druck der Städter, wie man vor einigen Monaten glaubte,
warum hätte er sonst sich so rasch zum Landsturm erhoben? und die lombardischen
Nobili wollten sich nicht aus Scheu vor den republikanischen Ideen enger an
Oestreich anschließen, wie man ans Wien vor einigen Wochen nach allen Welt¬
gegenden schrieb. Wer die Stellung des italienischen Adels und seine Verschie¬
denheit von unserer nordischen Aristokratie kennt, mußte jene Wiener Nachricht
überhaupt mit Kopfschütteln aufnehmen. Nobili und Facchini, Geistliche und
Laien, Alles focht brüderlich neben einander gegen die Besatzung; ohne verabre¬
deten Plan, ohne Führer und Commando, organisirte sich der Aufstand aus den-
Stegreif und von selbst. Der Times-Correspondent behauptet, ein schöneres Schau¬
spiel sei undenkbar als diese Volkserhebung, die, ungleich vielen Revolutionen,
völlig rein blieb von Parteimanövern und Intriguen; wo kein Stand den andern
vorschob, um die Kastanien für ihn aus dem Feuer zu holen; wo keine VoM-
klasse gegen die andere gehetzt wurde und kein Geschlecht, Alter oder Beruf im
Gefechte zurückblieb. Es war eben keine Revolution, es hatte keinen einzigen
Zug von Bürgerkrieg: es war ein Nationalkrieg gegen ein fremdes Joch und da¬
her von all' jenen wunderbaren Erscheinungen begleitet, die solchen Kriegen eigen
sind. Der größte Theil der mailändischen Waffen bestand in Vogelflinten und
Pistolen. Zum Barrikadenbau gaben die Reichen ihre schönsten Equipagen her
und die vornehmsten Frauen ihre Pianos, Harfen und Schachteln, die, um


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[0083] wenigen Stunden war der Kern der Stadt zur uneinnehmbaren Beste verschanzt. Nun stellte Radetzky seine Truppen auf einem offenen Glacis zwischen Stadt und Citadelle auf, wo sie den Flinten der Anführer eine bequeme Scheibe boten, ohne selbst einen gleichen Zielpunkt zu haben. Zuletzt mußte sich Radetzky in die Ci¬ tadelle zurückziehen. Diese beherrscht die Stadt nicht; sie liegt auf einem Niveau mit ihr. Die kaiserlichen Kanonen spielten also nur gegen die verbarrikadüten Straßen, die auf die Citadelle münden. Vom Sonnabend bis zur Mittwoch währte dieses Scharmützeln, unter häufigen Pausen, fort; die Stadt zu bombar- diren konnte oder wollte der Feldmarschall nicht wagen. Indessen hatten die In¬ surgenten durch kleine Luftballons Proclamationen über das Weichbild der Stadt geworfen, der Landsturm erhob sich von allen Seiten, Radetzky konnte abgeschnit¬ ten und ausgehungert werden — denn es fehlte, merkwürdiger Weise, an Schieß- nnd Mundvorrath in der Beste — er zog also in stiller Nacht mit seinen Trup¬ pen ab und Mailand wurde frei, ohne, wie die ersten Berichte erzählten, ein zweites Saragossa geworden zu sein. Die wesentlichsten und wichtigsten Züge an diesem Ereigniß sind, daß die Bürger Mailands ohne französische oder sardinische Hilfe eine mächtige und tapfere Besatzung vertreiben konnte», ferner daß noch einige andere Vorurtheile Lügen ge¬ straft wurden, mit denen sich das Wiener Cabinet lange in Schlaf gelullt hatte. Der lombardische Bauer, scheint es, sah in der östreichischen Regierung nicht seinen Schutzpatron gegen den Druck der Städter, wie man vor einigen Monaten glaubte, warum hätte er sonst sich so rasch zum Landsturm erhoben? und die lombardischen Nobili wollten sich nicht aus Scheu vor den republikanischen Ideen enger an Oestreich anschließen, wie man ans Wien vor einigen Wochen nach allen Welt¬ gegenden schrieb. Wer die Stellung des italienischen Adels und seine Verschie¬ denheit von unserer nordischen Aristokratie kennt, mußte jene Wiener Nachricht überhaupt mit Kopfschütteln aufnehmen. Nobili und Facchini, Geistliche und Laien, Alles focht brüderlich neben einander gegen die Besatzung; ohne verabre¬ deten Plan, ohne Führer und Commando, organisirte sich der Aufstand aus den- Stegreif und von selbst. Der Times-Correspondent behauptet, ein schöneres Schau¬ spiel sei undenkbar als diese Volkserhebung, die, ungleich vielen Revolutionen, völlig rein blieb von Parteimanövern und Intriguen; wo kein Stand den andern vorschob, um die Kastanien für ihn aus dem Feuer zu holen; wo keine VoM- klasse gegen die andere gehetzt wurde und kein Geschlecht, Alter oder Beruf im Gefechte zurückblieb. Es war eben keine Revolution, es hatte keinen einzigen Zug von Bürgerkrieg: es war ein Nationalkrieg gegen ein fremdes Joch und da¬ her von all' jenen wunderbaren Erscheinungen begleitet, die solchen Kriegen eigen sind. Der größte Theil der mailändischen Waffen bestand in Vogelflinten und Pistolen. Zum Barrikadenbau gaben die Reichen ihre schönsten Equipagen her und die vornehmsten Frauen ihre Pianos, Harfen und Schachteln, die, um Grenzboten. II. 1»«». ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/83>, abgerufen am 03.07.2024.