Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.das Volk mischen und von ihm lernen, was eine naturwüchsig originelle Aus¬ Der Augenblick, in dem das Volk souverän war, ist der Mittag am 19. ge¬ Das Erste, was uns beim Eintritt in die Stadt begegnet, sind die Bürger¬ Von Militär zeigte sich damals keine Spur; wenn ein Soldat sich auf die Es war eine Seltenheit, wen>i man einen Menschen ohne Cocarde begegnete. Die Straßen waren voll wie sonst, doch kamen mir die Spaziergänger weni¬ Die Spuren der Barrikaden waren zum großen Theile verwischt, nur die Ue¬ Grenzboten. II. I""8. 2
das Volk mischen und von ihm lernen, was eine naturwüchsig originelle Aus¬ Der Augenblick, in dem das Volk souverän war, ist der Mittag am 19. ge¬ Das Erste, was uns beim Eintritt in die Stadt begegnet, sind die Bürger¬ Von Militär zeigte sich damals keine Spur; wenn ein Soldat sich auf die Es war eine Seltenheit, wen>i man einen Menschen ohne Cocarde begegnete. Die Straßen waren voll wie sonst, doch kamen mir die Spaziergänger weni¬ Die Spuren der Barrikaden waren zum großen Theile verwischt, nur die Ue¬ Grenzboten. II. I««8. 2
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das Volk mischen und von ihm lernen, was eine naturwüchsig originelle Aus¬
drucksweise ist.
Der Augenblick, in dem das Volk souverän war, ist der Mittag am 19. ge¬
wesen: der Zug der Leichen vor das Schloß. Damals war selbst das Königthum
in seinen Händen. Das Volk hat seine Macht mit einer Größe und zugleich ei¬
nem Maaß — einem Maaß des Instinkts, nicht der Berechnung, ausgeübt, von
der die Geschichte wenig Beispiele bieten wird. —
Das Erste, was uns beim Eintritt in die Stadt begegnet, sind die Bürger¬
wachen am Thor. Es fleht drollig genug aus, diese durchaus nicht coursähigen
Figuren mit Flinten, Säbeln und allem möglichen bewaffnet, was ihnen gerade
unter die Hände gefallen ist, wie sie unverdrossen auf- und abschreiten, zum Theil
die Pfeife im Munde. Nur wo eine Studentenverbindung — jetzt immer in schwarz-
roth - goldnen Mützen — sich in einer Wache angesiedelt hat, wird man noch etwas
an die alte Uniform erinnert: es ist wenigstens esnrit noirs darin.
Von Militär zeigte sich damals keine Spur; wenn ein Soldat sich auf die
Straße verirrte, so war es Arm in Arm mit einem Civilisten. Die Gensdarmen
hatten ihre Uniform abgeworfen, zum Theil die Scheermesser an ihre Bärte ge¬
legt. Aber allmälig tauchte einer nach dem andern wieder auf.
Es war eine Seltenheit, wen>i man einen Menschen ohne Cocarde begegnete.
Fast aus jedem Hause flatterte eine große roth-schwarz-gelbe Fahne, was der Stadt
einen buntscheckigen, aber nicht unangenehmen Anstrich gab. In manchem Hause
zählte ich sechs Fahnen, die zum Theil an den Fenstern, zum Theil auf den Gie¬
beln befestigt waren. Selbst dem alten Blücher, dem alten Scharnhorst und all'
den übrigen gegossenen Helden vor der Hauptwache und auf dem Wilhelmsplatze
warm die Embleme der deutscheu Einheit in die Arme gedrückt. Die Anschlags¬
zettel an den Mauern waren roth-schwarz-gelb geordnet. Die Damen trugen
roth-schwarz-gelbe Halstücher oder entsprechende Bänder auf den Hüten. An allen
Straßenecken war Hochverrath angeschlagen; alle drei Schritte rief ein Colporteur:
„der Prinz von Preußen und die Berliner Revolution für 2 Sgr."
Die Straßen waren voll wie sonst, doch kamen mir die Spaziergänger weni¬
ger elegant vor als früher; man merkte selbst an den Mienen der Leute, daß
man in einem provisorischen Zustand lebe. Auch die plebejische Droschke dominirte
weit über die zierliche Equipage mit aristokratischen Wappen. Die Rauchfreiheit
wurde mit Maß betrieben: das Rauchen auf den Straße.» scheint noch nicht zum
guten Ton zu gehören.
Die Spuren der Barrikaden waren zum großen Theile verwischt, nur die Ue¬
bergänge über die Gossen waren noch in einiger Unordnung, und das Pflaster
war noch in vielen Straßen von den heruntergeworfenen Ziegeln roth gefärbt.
Die Conditorei von d'Heureuse und einige andere Häuser zeigten noch immer die
Spuren ihres heldenmüthigen Widerstandes. Die berühmte Inschrift um die in
Grenzboten. II. I««8. 2
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