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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Die geschilderte Einkasernirung der Familiensvhne in Gymnasien und Pensionen
ist auch der Grund davon, daß uns die Pariser Straßen so selten in den an uns
vorüberwandelnden Physiognomien jugendliche Frische und jugendliche Züge zeigen.
Junge Leute oder Mädchen gehen überhaupt nicht allein auf den Pariser Straßen.-
die Eltern halten darauf, daß sie stets und namentlich auf der Straße unter Obhut
und Aussicht sind. Die jungen, noch den Schulbänken angehörigen Franzosen sieht
man nur an gewissen Tageszeiten, unter der Führung eines Studienmeisters, in langen
Reihen, zwei und zwei, den Klassen zuwandern. Der innere Hofraum empfängt sie,
in dessen Mitte ein Trommelschläger steht, welcher sein Auge unverwandt auf die große
Schuluhr wendet. Es schlägt acht; die Trommel wirbelt, die Züge trennen sich und
Jeder sucht seine Klasse auf. Um zehn Uhr verkündet die Trommel wiederum das Ende
der Lehrstunden; bereits stehen die Studienmcister (von den Zöglingen >>inn8 bespitznamt),
im Hofe, bilden ihre Züge und gehen mit denselben in die Studirsäle ("trete").

Wir haben bis jetzt die gut organisirten Theile des Schulwesens kennen gelernt,
seine kranke Seite ist das Volksschulwesen; die Statistiker Frankreichs und jeder Auf¬
enthalt in einem französischen Dorfe geben darüber traurige Belege; über die Hälfte
der Bewohner des herrlichen Landes kann nicht lesen; ein Schulzwang, der sich auf alle
Personen ausdehnt, ist nicht vorhanden; die sittliche Befuginß der Dorfschullehrer (in-
iititntvur ne-iimtire) wird nicht genau untersucht. Beispiele, daß unter ihnen verwor¬
fene Menschen, daß unter ihnen Verbrecher sind, sind nicht selten. Hier ist der Wir¬
kungskreis eines republikanischen Unterrichtsministeriums, hier ist das unbestellte Land
des menschlichen Herzens, hier ist zu säen. Welch' am Volk müßte das französische
werden, wenn es zu seiner politischen Befähigtheit die Segnungen eines volksmäßigen
Unterrichts hinzufügte. Doch leider geht bis jetzt aus keiner Verordnung des vorläu¬
figen Unterrichtsministeriums hervor, daß es Vervollkommnung des VolksschnlwesenS als
Hauptgrundlage, als Hauptbestandtheil seines Wirkens betrachte!


ViichmKMi.


Gttnzlwleii, II. 1848.^

Die geschilderte Einkasernirung der Familiensvhne in Gymnasien und Pensionen
ist auch der Grund davon, daß uns die Pariser Straßen so selten in den an uns
vorüberwandelnden Physiognomien jugendliche Frische und jugendliche Züge zeigen.
Junge Leute oder Mädchen gehen überhaupt nicht allein auf den Pariser Straßen.-
die Eltern halten darauf, daß sie stets und namentlich auf der Straße unter Obhut
und Aussicht sind. Die jungen, noch den Schulbänken angehörigen Franzosen sieht
man nur an gewissen Tageszeiten, unter der Führung eines Studienmeisters, in langen
Reihen, zwei und zwei, den Klassen zuwandern. Der innere Hofraum empfängt sie,
in dessen Mitte ein Trommelschläger steht, welcher sein Auge unverwandt auf die große
Schuluhr wendet. Es schlägt acht; die Trommel wirbelt, die Züge trennen sich und
Jeder sucht seine Klasse auf. Um zehn Uhr verkündet die Trommel wiederum das Ende
der Lehrstunden; bereits stehen die Studienmcister (von den Zöglingen >>inn8 bespitznamt),
im Hofe, bilden ihre Züge und gehen mit denselben in die Studirsäle («trete«).

Wir haben bis jetzt die gut organisirten Theile des Schulwesens kennen gelernt,
seine kranke Seite ist das Volksschulwesen; die Statistiker Frankreichs und jeder Auf¬
enthalt in einem französischen Dorfe geben darüber traurige Belege; über die Hälfte
der Bewohner des herrlichen Landes kann nicht lesen; ein Schulzwang, der sich auf alle
Personen ausdehnt, ist nicht vorhanden; die sittliche Befuginß der Dorfschullehrer (in-
iititntvur ne-iimtire) wird nicht genau untersucht. Beispiele, daß unter ihnen verwor¬
fene Menschen, daß unter ihnen Verbrecher sind, sind nicht selten. Hier ist der Wir¬
kungskreis eines republikanischen Unterrichtsministeriums, hier ist das unbestellte Land
des menschlichen Herzens, hier ist zu säen. Welch' am Volk müßte das französische
werden, wenn es zu seiner politischen Befähigtheit die Segnungen eines volksmäßigen
Unterrichts hinzufügte. Doch leider geht bis jetzt aus keiner Verordnung des vorläu¬
figen Unterrichtsministeriums hervor, daß es Vervollkommnung des VolksschnlwesenS als
Hauptgrundlage, als Hauptbestandtheil seines Wirkens betrachte!


ViichmKMi.


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[0183] Die geschilderte Einkasernirung der Familiensvhne in Gymnasien und Pensionen ist auch der Grund davon, daß uns die Pariser Straßen so selten in den an uns vorüberwandelnden Physiognomien jugendliche Frische und jugendliche Züge zeigen. Junge Leute oder Mädchen gehen überhaupt nicht allein auf den Pariser Straßen.- die Eltern halten darauf, daß sie stets und namentlich auf der Straße unter Obhut und Aussicht sind. Die jungen, noch den Schulbänken angehörigen Franzosen sieht man nur an gewissen Tageszeiten, unter der Führung eines Studienmeisters, in langen Reihen, zwei und zwei, den Klassen zuwandern. Der innere Hofraum empfängt sie, in dessen Mitte ein Trommelschläger steht, welcher sein Auge unverwandt auf die große Schuluhr wendet. Es schlägt acht; die Trommel wirbelt, die Züge trennen sich und Jeder sucht seine Klasse auf. Um zehn Uhr verkündet die Trommel wiederum das Ende der Lehrstunden; bereits stehen die Studienmcister (von den Zöglingen >>inn8 bespitznamt), im Hofe, bilden ihre Züge und gehen mit denselben in die Studirsäle («trete«). Wir haben bis jetzt die gut organisirten Theile des Schulwesens kennen gelernt, seine kranke Seite ist das Volksschulwesen; die Statistiker Frankreichs und jeder Auf¬ enthalt in einem französischen Dorfe geben darüber traurige Belege; über die Hälfte der Bewohner des herrlichen Landes kann nicht lesen; ein Schulzwang, der sich auf alle Personen ausdehnt, ist nicht vorhanden; die sittliche Befuginß der Dorfschullehrer (in- iititntvur ne-iimtire) wird nicht genau untersucht. Beispiele, daß unter ihnen verwor¬ fene Menschen, daß unter ihnen Verbrecher sind, sind nicht selten. Hier ist der Wir¬ kungskreis eines republikanischen Unterrichtsministeriums, hier ist das unbestellte Land des menschlichen Herzens, hier ist zu säen. Welch' am Volk müßte das französische werden, wenn es zu seiner politischen Befähigtheit die Segnungen eines volksmäßigen Unterrichts hinzufügte. Doch leider geht bis jetzt aus keiner Verordnung des vorläu¬ figen Unterrichtsministeriums hervor, daß es Vervollkommnung des VolksschnlwesenS als Hauptgrundlage, als Hauptbestandtheil seines Wirkens betrachte! ViichmKMi. Gttnzlwleii, II. 1848.^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/183>, abgerufen am 29.06.2024.