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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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munäum; tenia na urbom etc.) - Das reiche und lebensvolle Cap. VIII.:
Die Belletristik als Vermittlerin der Philosophie mit dem Volks¬
bewußtsein, führt uns recht in die Stimmungen, Wünsche, Leiden und Laster
des damaligen Volks. Wer kann es verkennen, daß die schöne Literatur zu allen
Zeiten die tiefste Errungenschaft der Denker unter das Volk ausgestreut. Der
wahre Dichter ist nur ein Weiser, aber durch die Schönheit der sinnlichen Form
bezwingt er die größere Masse. Wir deuten vergleichungsweise auf Dante und
Boccaz. Zugleich ist aber wohl bei Erforschung und Erkenntniß der Kulturgeschichte
nichts die Zeit verdeutlichender als das Studium jeuer Bilder des Lebens. Die
poetische Natur ist jedoch in zwiefacher Art für den Historiker von Nutzen. Die
Dichter legen nämlich entweder unbewußt oder bewußt ein Zeugniß von der
Natur ihrer Zeit ab. In erster Hinsicht führt uns der Verfasser Ovid, Horaz,
Properz vor. Da tritt uns freilich ein Gemälde großer sittlicher Verderbtheit
entgegen. Die ganze obscöne Literatur gehört auch hierher. Am ausführlichsten
wird Properz behandelt, der dem Verfasser nicht zwar als der schlüpfrigste, aber
als der am tiefsten Unsittliche, ein in unmännlicher Verdumpfung Versunkener
gilt, der auf jedes edlere Gefühl erstickend habe wirken müssen, wie er selbst
erstickt gewesen. Auch Horazcn's Feigheit und Indolenz wird nachgewiesen. --

Oder zweitens: die Brust des Dichters, wenn sie ans reinem Gemüthe be- .
harrt und mit gebildetem Geist den sittlich freien Standpunkt behauptet, wird
ergriffen von dem ganzen Jammer und Elend des Volkes. Solche können in
solcher Zeit nichts anders als Satiriker sein. Daher denn ein reichhaltiger Ueber¬
blick über den bedeutenden Inhalt des Juvenal und Persius (welche bekanntlich
beide der stoischen Philosophie angehörten). Hier neben Ausbrüchen der Gemüths¬
empörung und edlen Unwillens, der Ausdruck erhabenster und herrlichster Em¬
pfindungen und Gedanken, und unerbittlich strenge Abschilderung des gestimmten
sittlichen Elends, der allerwärts zerfressenen Zustände des Staates n. f. w. Alle
und jede Thorheit wird zur Schau gebracht und gegeißelt; Niemand geschont,
Niemand gefürchtet. Das Alles spricht und erzählt besser als Geschichtsbücher!
-- Es ist lobend hervorzuheben, daß der Verfasser hier auch der Schilderung
des Proletariats, welches uns vorzüglich Juvenal getren und ergreifend abzeichnet,
genaue Aufmerksamkeit geschenkt hat (S. 30!) ff.). - Noch ist eine unbestreitbar
wahre Bemerkung des Verfassers erwähnenswert!): daß nämlich die belletristische
Literatur zuweilen wohl auch nicht wenig geschadet, selbst dann, wenn sie es gut
gemeint. Denn ein philosophisches System verderbe Keinen; wohl aber mitunter
hingeworfene Aufklärungsbrocken. - - Hierauf wendet er sich zu den Maßregeln,
welche die Negierung ergreife" zu müssen glaubte. Cap. IX.- das Verhalten
der Monarchie zu den Wirkungen der Aufklärung. Zuerst ein Schan-
kelsystem friedlicher Reaction/' Das Volk wird unterhalten mit Gladiatorenkäm¬
pfen und Spielen. Palliative, wie: Sittenedikte, Brot- und Kornvertheilungen


munäum; tenia na urbom etc.) - Das reiche und lebensvolle Cap. VIII.:
Die Belletristik als Vermittlerin der Philosophie mit dem Volks¬
bewußtsein, führt uns recht in die Stimmungen, Wünsche, Leiden und Laster
des damaligen Volks. Wer kann es verkennen, daß die schöne Literatur zu allen
Zeiten die tiefste Errungenschaft der Denker unter das Volk ausgestreut. Der
wahre Dichter ist nur ein Weiser, aber durch die Schönheit der sinnlichen Form
bezwingt er die größere Masse. Wir deuten vergleichungsweise auf Dante und
Boccaz. Zugleich ist aber wohl bei Erforschung und Erkenntniß der Kulturgeschichte
nichts die Zeit verdeutlichender als das Studium jeuer Bilder des Lebens. Die
poetische Natur ist jedoch in zwiefacher Art für den Historiker von Nutzen. Die
Dichter legen nämlich entweder unbewußt oder bewußt ein Zeugniß von der
Natur ihrer Zeit ab. In erster Hinsicht führt uns der Verfasser Ovid, Horaz,
Properz vor. Da tritt uns freilich ein Gemälde großer sittlicher Verderbtheit
entgegen. Die ganze obscöne Literatur gehört auch hierher. Am ausführlichsten
wird Properz behandelt, der dem Verfasser nicht zwar als der schlüpfrigste, aber
als der am tiefsten Unsittliche, ein in unmännlicher Verdumpfung Versunkener
gilt, der auf jedes edlere Gefühl erstickend habe wirken müssen, wie er selbst
erstickt gewesen. Auch Horazcn's Feigheit und Indolenz wird nachgewiesen. —

Oder zweitens: die Brust des Dichters, wenn sie ans reinem Gemüthe be- .
harrt und mit gebildetem Geist den sittlich freien Standpunkt behauptet, wird
ergriffen von dem ganzen Jammer und Elend des Volkes. Solche können in
solcher Zeit nichts anders als Satiriker sein. Daher denn ein reichhaltiger Ueber¬
blick über den bedeutenden Inhalt des Juvenal und Persius (welche bekanntlich
beide der stoischen Philosophie angehörten). Hier neben Ausbrüchen der Gemüths¬
empörung und edlen Unwillens, der Ausdruck erhabenster und herrlichster Em¬
pfindungen und Gedanken, und unerbittlich strenge Abschilderung des gestimmten
sittlichen Elends, der allerwärts zerfressenen Zustände des Staates n. f. w. Alle
und jede Thorheit wird zur Schau gebracht und gegeißelt; Niemand geschont,
Niemand gefürchtet. Das Alles spricht und erzählt besser als Geschichtsbücher!
— Es ist lobend hervorzuheben, daß der Verfasser hier auch der Schilderung
des Proletariats, welches uns vorzüglich Juvenal getren und ergreifend abzeichnet,
genaue Aufmerksamkeit geschenkt hat (S. 30!) ff.). - Noch ist eine unbestreitbar
wahre Bemerkung des Verfassers erwähnenswert!): daß nämlich die belletristische
Literatur zuweilen wohl auch nicht wenig geschadet, selbst dann, wenn sie es gut
gemeint. Denn ein philosophisches System verderbe Keinen; wohl aber mitunter
hingeworfene Aufklärungsbrocken. - - Hierauf wendet er sich zu den Maßregeln,
welche die Negierung ergreife» zu müssen glaubte. Cap. IX.- das Verhalten
der Monarchie zu den Wirkungen der Aufklärung. Zuerst ein Schan-
kelsystem friedlicher Reaction/' Das Volk wird unterhalten mit Gladiatorenkäm¬
pfen und Spielen. Palliative, wie: Sittenedikte, Brot- und Kornvertheilungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/131>, abgerufen am 26.06.2024.