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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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man sich halten konnte, eine hypothekarische Sicherheit. In Nußland aber? o
Himmel, die ganze Nation besteht aus ein paar Millionen Freien, die Uebrigen
sind Leibeigne oder Besitzlose. Darnach könnte ein russischer Polizeiminister eine
Prügclstatistik entwerfen, indem er die Hiebe, welche ein Leibeigner oder Besitz¬
loser täglich zu erhalten Pflegt, mit der Zahl 40 oder 50 Millionen multiplizirt.
Will man statt der Prügel lieber Gefängnißstrafe verhängen? Nun gut, aber da
geht ja inzwischen bei der geringen Bevölkerung für den Landbau an produktiver
Kraft verloren. Also Prügel! Oder will man statt des Gefängnisses lieber Ge¬
rätschaften und Lebensmittel in Anspruch nehmen? El, das wäre etwas, man
hat darüber auch Verordnungen getroffen. So gelten z. B. acht Knlmet Roggen
(etwa 2?^ Scheffel, das Aeußerste, was die Landpolizei bestimmen darf) gleich 80
Stockschlägen oder gleich 100 Ruthenhieben. Aber wenn kein Kulmet Roggen und
nichts vorhanden ist, woran man sich halten kann, wie dann? Also Prügel!
Prügel!

Das beste Mittel zur Beseitigung der Prügel in den Ostseeprovinzen und
zur Heranbildung der Bevölkerung sür die Begriffe der Ehre, für germanische
Verhältnisse, wäre von Seiten der Gutsbesitzer eine kleine Concession von Grund¬
besitz gewesen. Aber man hatte das Deutschthum bis auf die Worte vergessen,
womit man seine tägliche Konversation handhabt.

Ich gehe weiter und betrete einen Fichtenhain. Die Mitte ist etwas gelichtet,
das Erdreich steigt zu einem leisen Hügel hinan, ein Stacket aus aneinander ge¬
schlossenen Stäben von Tannenholz umgibt ihn. Auf dem größern Hügel zeigen
sich wieder kleinere Erhöhungen, sind es Maulwurfshügel? Auf jedem steht ein
Stab, an welchen sich drei andere in Gestalt eines Dreiecks befestigen. Etwa
Kreuze? -- ja, es ist ein Kirchhof, ich steige über das Stacket, da ruhen sie un¬
genannt und ungekannt, wie im Leben, so im Tode! Kein Denkmal, keine In¬
schrift! aber dort rothe und gelbe und blaue Farbe"! ich trete näher: ein frisch
aufgeworfenes Grab! wieder der hölzerne Stab mit dem Dreieck, verziert mit
Zeugläppchen von rothen Unterröcken, Hahnenfedern, kleinen Glasstücken, selbst
Papierschnitzeln darunter, wie es scheint, abgerissene Stückchen von Zeitungen; el,
ich will doch sehen, was darauf steht; es ist ein Achtelblättchen von der Augs-
burger Allgemeinen, wahrscheinlich als fliegendes Blatt vom Bauer im Gehöfte
des Herrenhauses aufgehascht und mitgenommen. Einige Worte sind durchgerissen,
aber ich lese Folgendes: "O die Anhänglichkeit an ein geschmähtes, gedrücktes
Vaterland ist tausendmal erhebender, als das gleiche Gefühl für ein auf der
Wellenfluth des Glückes treibendes." Auf demselben Blättchen kam der Name
O'Connel vor, ich vermuthe, der hat jene Worte gesprochen. Die Jahreszahl
war 1841 und das Datum der 15. September. Wunderbares Zusammentreffen!

Es gehen mehrere Bauern im lebhaften Gespräch vorüber. Ich frage, was
es gibt. Sie sagen, e" würde Gemeindegericht gehalten. Ich schließe mich an.


man sich halten konnte, eine hypothekarische Sicherheit. In Nußland aber? o
Himmel, die ganze Nation besteht aus ein paar Millionen Freien, die Uebrigen
sind Leibeigne oder Besitzlose. Darnach könnte ein russischer Polizeiminister eine
Prügclstatistik entwerfen, indem er die Hiebe, welche ein Leibeigner oder Besitz¬
loser täglich zu erhalten Pflegt, mit der Zahl 40 oder 50 Millionen multiplizirt.
Will man statt der Prügel lieber Gefängnißstrafe verhängen? Nun gut, aber da
geht ja inzwischen bei der geringen Bevölkerung für den Landbau an produktiver
Kraft verloren. Also Prügel! Oder will man statt des Gefängnisses lieber Ge¬
rätschaften und Lebensmittel in Anspruch nehmen? El, das wäre etwas, man
hat darüber auch Verordnungen getroffen. So gelten z. B. acht Knlmet Roggen
(etwa 2?^ Scheffel, das Aeußerste, was die Landpolizei bestimmen darf) gleich 80
Stockschlägen oder gleich 100 Ruthenhieben. Aber wenn kein Kulmet Roggen und
nichts vorhanden ist, woran man sich halten kann, wie dann? Also Prügel!
Prügel!

Das beste Mittel zur Beseitigung der Prügel in den Ostseeprovinzen und
zur Heranbildung der Bevölkerung sür die Begriffe der Ehre, für germanische
Verhältnisse, wäre von Seiten der Gutsbesitzer eine kleine Concession von Grund¬
besitz gewesen. Aber man hatte das Deutschthum bis auf die Worte vergessen,
womit man seine tägliche Konversation handhabt.

Ich gehe weiter und betrete einen Fichtenhain. Die Mitte ist etwas gelichtet,
das Erdreich steigt zu einem leisen Hügel hinan, ein Stacket aus aneinander ge¬
schlossenen Stäben von Tannenholz umgibt ihn. Auf dem größern Hügel zeigen
sich wieder kleinere Erhöhungen, sind es Maulwurfshügel? Auf jedem steht ein
Stab, an welchen sich drei andere in Gestalt eines Dreiecks befestigen. Etwa
Kreuze? — ja, es ist ein Kirchhof, ich steige über das Stacket, da ruhen sie un¬
genannt und ungekannt, wie im Leben, so im Tode! Kein Denkmal, keine In¬
schrift! aber dort rothe und gelbe und blaue Farbe»! ich trete näher: ein frisch
aufgeworfenes Grab! wieder der hölzerne Stab mit dem Dreieck, verziert mit
Zeugläppchen von rothen Unterröcken, Hahnenfedern, kleinen Glasstücken, selbst
Papierschnitzeln darunter, wie es scheint, abgerissene Stückchen von Zeitungen; el,
ich will doch sehen, was darauf steht; es ist ein Achtelblättchen von der Augs-
burger Allgemeinen, wahrscheinlich als fliegendes Blatt vom Bauer im Gehöfte
des Herrenhauses aufgehascht und mitgenommen. Einige Worte sind durchgerissen,
aber ich lese Folgendes: „O die Anhänglichkeit an ein geschmähtes, gedrücktes
Vaterland ist tausendmal erhebender, als das gleiche Gefühl für ein auf der
Wellenfluth des Glückes treibendes." Auf demselben Blättchen kam der Name
O'Connel vor, ich vermuthe, der hat jene Worte gesprochen. Die Jahreszahl
war 1841 und das Datum der 15. September. Wunderbares Zusammentreffen!

Es gehen mehrere Bauern im lebhaften Gespräch vorüber. Ich frage, was
es gibt. Sie sagen, e« würde Gemeindegericht gehalten. Ich schließe mich an.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/556>, abgerufen am 27.07.2024.