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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Ton forcirt und dadurch an's Geschmacklose streift. -- Vou den übrigen
Sängern ist mir nur Herr Mitterwurzer aufgefallen, der einen seltenen weichen
Ton hat und sich auch durch ein anmuthiges Aeußere und ein lebendiges Spiel
vortheilhaft vor den andern auszeichnet. -- Fräulein Wagner, die Nichte
des Kapellmeisters, hat eine bedeutende, umfangreiche und volltönende Stimme,
die sie aber noch keineswegs beherrscht. Ihre Uebergänge sind hart, zuweilen ge¬
radezu gewaltsam, und wenn sie in'S Leidenschaftliche übergeht, namentlich aber,
wenn sie schon mit größerer Kraft zu intoniren hat, verliert sich ihr Ton beinahe
vollständig aus dem musikalischen Bereich. Ihr Spiel ist nirgend tadelhaft, bietet
aber auch keine Momente größeren Verständnisses dar. Ich kann mich der Bemer¬
kung nicht erwehren, gerade bei der Rolle der Agathe, daß die geniale Auffassung,
durch die Jenny Lind diese Parthie in eine höhere Sphäre der Kunst einweihte,
noch so wenig Nachwirkung bei den übrigen Sängerinnen gehabt hat, eine Auffas¬
sung, in der jeder, auch der kleinste Zug, das feinste Gefühl und das innigste
Eindringen in die verborgeuereu Tiefen der menschlichen Seele verrieth. Gerade
in diesen Rollen, in welche ein intimes Seelenleben hineingetragen werden kann,
sollte Jenny Lind ebenso ein Vorbild für jüngere Künstlerinnen werden, wie es
Wilhelmine Schröder-Devrient in dem Bereich der mächtigeren Leidenschaft wirk¬
lich geworden ist. Frl. Wagner hat jedoch den großen Vorzug der Jugend und der
nahen Verwandtschaft mit einem geistvollen Componisten, und so läßt sich noch Vieles
von der Zukunft hoffen. -- Die zweite Sängerin, Frl. Thiele (Aermchen im Freischütz
und Marie in der Negimentstochtcr) hat den Vortheil eines hübschen Gesichtes,
überhaupt eiues liebenswürdigen Aeußeren, und hat es doch zu keiner Popularität
bringen können; der Grund, so viel ich sehe, macht den Dresdnern Ehre; sie
scheinen die allzu coquette, ich möchte sagen herausforderte Weise uicht zu lieben,
mit der die junge Sängerin die Naivität ihrer Rollen geltend macht. -- Von dem
übrigen Operupersonal, so weit es in den letzten Wochen in Activität war, laßt
sich nichts Erhebliches melden.

Im Schauspiel ist Frl. Bayer unstreitig die bedeutendste und überhaupt eine
der ersten Künstlerinnen deutscher Bühnen. Ich habe sie als Judith im Uriel Acosta,
als Jolanthe in König Rene und in einigen kleinen Lustspielen gesehn. Sie scheint im
Ganzen mehr für leidenschaftliche Rollen geschaffen zu sein, in denen sich ihr gro¬
ßes Talent und ihre bedeutenden Mittel frei entfalten können. Als Jolanthe, wo
sie ein wunderliches physisch-psychologisches Problem zu lösen hatte, sagte sie mir
weniger zu; die Haltung ihres Körpers war zwar ihrer Blindheit vortrefflich
angepaßt, aber sie glaubte dieselbe uoch durch die Eigenthümlichkeit des Tonfalls
unterstützen zu müssen; sie sprach nämlich sehr langsam, gemessen und gewichtig,
ungefähr wie es Sitte ist, die Somnambulen auf dem Theater reden zu hören.
Das liegt einerseits nicht in der Rolle, wie der Dichter sie gedacht hat, ander-
seits vermehrt es uoch die so schon übertriebene Sentimentalität des gauzeu Stückes.


Ton forcirt und dadurch an's Geschmacklose streift. — Vou den übrigen
Sängern ist mir nur Herr Mitterwurzer aufgefallen, der einen seltenen weichen
Ton hat und sich auch durch ein anmuthiges Aeußere und ein lebendiges Spiel
vortheilhaft vor den andern auszeichnet. — Fräulein Wagner, die Nichte
des Kapellmeisters, hat eine bedeutende, umfangreiche und volltönende Stimme,
die sie aber noch keineswegs beherrscht. Ihre Uebergänge sind hart, zuweilen ge¬
radezu gewaltsam, und wenn sie in'S Leidenschaftliche übergeht, namentlich aber,
wenn sie schon mit größerer Kraft zu intoniren hat, verliert sich ihr Ton beinahe
vollständig aus dem musikalischen Bereich. Ihr Spiel ist nirgend tadelhaft, bietet
aber auch keine Momente größeren Verständnisses dar. Ich kann mich der Bemer¬
kung nicht erwehren, gerade bei der Rolle der Agathe, daß die geniale Auffassung,
durch die Jenny Lind diese Parthie in eine höhere Sphäre der Kunst einweihte,
noch so wenig Nachwirkung bei den übrigen Sängerinnen gehabt hat, eine Auffas¬
sung, in der jeder, auch der kleinste Zug, das feinste Gefühl und das innigste
Eindringen in die verborgeuereu Tiefen der menschlichen Seele verrieth. Gerade
in diesen Rollen, in welche ein intimes Seelenleben hineingetragen werden kann,
sollte Jenny Lind ebenso ein Vorbild für jüngere Künstlerinnen werden, wie es
Wilhelmine Schröder-Devrient in dem Bereich der mächtigeren Leidenschaft wirk¬
lich geworden ist. Frl. Wagner hat jedoch den großen Vorzug der Jugend und der
nahen Verwandtschaft mit einem geistvollen Componisten, und so läßt sich noch Vieles
von der Zukunft hoffen. — Die zweite Sängerin, Frl. Thiele (Aermchen im Freischütz
und Marie in der Negimentstochtcr) hat den Vortheil eines hübschen Gesichtes,
überhaupt eiues liebenswürdigen Aeußeren, und hat es doch zu keiner Popularität
bringen können; der Grund, so viel ich sehe, macht den Dresdnern Ehre; sie
scheinen die allzu coquette, ich möchte sagen herausforderte Weise uicht zu lieben,
mit der die junge Sängerin die Naivität ihrer Rollen geltend macht. — Von dem
übrigen Operupersonal, so weit es in den letzten Wochen in Activität war, laßt
sich nichts Erhebliches melden.

Im Schauspiel ist Frl. Bayer unstreitig die bedeutendste und überhaupt eine
der ersten Künstlerinnen deutscher Bühnen. Ich habe sie als Judith im Uriel Acosta,
als Jolanthe in König Rene und in einigen kleinen Lustspielen gesehn. Sie scheint im
Ganzen mehr für leidenschaftliche Rollen geschaffen zu sein, in denen sich ihr gro¬
ßes Talent und ihre bedeutenden Mittel frei entfalten können. Als Jolanthe, wo
sie ein wunderliches physisch-psychologisches Problem zu lösen hatte, sagte sie mir
weniger zu; die Haltung ihres Körpers war zwar ihrer Blindheit vortrefflich
angepaßt, aber sie glaubte dieselbe uoch durch die Eigenthümlichkeit des Tonfalls
unterstützen zu müssen; sie sprach nämlich sehr langsam, gemessen und gewichtig,
ungefähr wie es Sitte ist, die Somnambulen auf dem Theater reden zu hören.
Das liegt einerseits nicht in der Rolle, wie der Dichter sie gedacht hat, ander-
seits vermehrt es uoch die so schon übertriebene Sentimentalität des gauzeu Stückes.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/526>, abgerufen am 28.07.2024.