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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Stanzen oder Polymetern der Geyer der Dichtkunst an der Leber seiner Jünger
nascht; dieser Weltschmerz ist nur eine Art Kuhpocken, durch welche das Gift der
Reflexion aus eine unschädliche Weise abgethan wird.

Die Dresdner denken nicht, wenigstens nicht so, daß es ihnen eine Qual
würde; das Denken stürzt sie nicht in Verzweiflung. Auch selbst ihrem Gefühl
für's Schone kauu mau wenigstens eine krankhafte Irritabilität nicht zuschreiben;
wenigstens habe ich nicht gesehen, daß sie über deu unausgesetzten Anblick ihrer
rvthgefrackten Gardetruppen mit himmelblauen Juexpressibeln in Wahnsinn gesetzt
wären, und doch könnte dieses Bild ein fühlendes Herz wohl kränken, und der
Anblick der eigenthümlichen Kopfbedeckung dieser Vaterlandsvertheidiger, die mit
einer Nachtmütze die nächste Verwandtschaft hat, würde keineswegs geeignet sein,
die ästhetische Empfindung zu trösten. Auch selbst die Bärenmützen der Garde
würden nicht hinreichen, der beleidigten Empfindung Frieden zu geben, wenn dieser
Friede nicht schon ursprünglich in den Dresdner Herzen wohnte. Frieden ist der
GrUudcharakter der Dresdner Physiognomie, und darin haben wir auch zugleich
ihren wesentliche,: Unterschied gegen Berlin und Leipzig gefunden; gegen die Un¬
ruhe der philosophischen Rande's und die Geschäftigkeit der Büchertrödler.

Man verwechsele die Dresdner nicht mit dem Gedränge in den Bildersälen
des Nenmarkts, in den Ateliers und bei den Antiken; auf diese, von dem Eingebornen
scharf zu trennende Gesellschaft werden wir später geführt werden. Wer den spe¬
cifischen Dresdner kennen lernen will, gehe in's Waldschlößchcu, zu Fiudlater's,
in's Lincke'sche Bad, kurz irgend wohin, wo Harmlosigkeit und Unschuld ihren
Sitz ausgerichtet haben. Da das letztere Institut zu Eude des Sommers geschlossen
wird, so müssen wir eilen, was den Dresdner erfreut, hier zu suchen. Das Thea¬
ter auf dem Lincke'schen Bade ist Hoftheater, aber ungefähr mit dem Zuschnitt des
köuigsstädtischeu in Berlin, ausschließlich für Localstücke, Possen und Aehnliches
bestimmt. Herr Näder, der "berühmte" Verfasser des "Weltumsegler wider Willen"
und des "Artesischen Brunnens," ist der Heros dieser Bühne. Das Stück, wel¬
ches in dieser Saison fast ausschließlich die Bretter beschäftigt hat, ist "Eisele
und Beisele;" es wurde früher auf dem Sommertheater von Reisewitz von einer
Privattruppe gegeben, und das Linke'sche Bad hat es sich darauf angeeignet, weil
es den Kunstgeschmack der Dresdner befriedigt.

Man wirft der deutschen Literatur und Kunst vor, es fehlten ihr die charak¬
teristischen Typen, die nicht nur für eine Stadt, sondern für das gesammte Vaterland
leicht kenntlich, besonders der komischen Literatur eiuen angemessenen Stützpunkt geben
könnten. Es ist ein unbestreitbares Verdienst der fliegenden Blätter, daß sie die¬
sem fühlbaren Bedürfniß abgeholfen, und den CharaktermaSkeu eines Michel, Rande
und Hanswurst eine Reihe ähnlicher hinzugefügt haben. Das Drama, welches
ans jene CharaktermaSkeu gegründet ist, beschäftigt sich theils damit, sämmtliche Witze
der fliegenden Blätter ans gemalten zu lebenden Bildern zu erheben, und ich muß


Stanzen oder Polymetern der Geyer der Dichtkunst an der Leber seiner Jünger
nascht; dieser Weltschmerz ist nur eine Art Kuhpocken, durch welche das Gift der
Reflexion aus eine unschädliche Weise abgethan wird.

Die Dresdner denken nicht, wenigstens nicht so, daß es ihnen eine Qual
würde; das Denken stürzt sie nicht in Verzweiflung. Auch selbst ihrem Gefühl
für's Schone kauu mau wenigstens eine krankhafte Irritabilität nicht zuschreiben;
wenigstens habe ich nicht gesehen, daß sie über deu unausgesetzten Anblick ihrer
rvthgefrackten Gardetruppen mit himmelblauen Juexpressibeln in Wahnsinn gesetzt
wären, und doch könnte dieses Bild ein fühlendes Herz wohl kränken, und der
Anblick der eigenthümlichen Kopfbedeckung dieser Vaterlandsvertheidiger, die mit
einer Nachtmütze die nächste Verwandtschaft hat, würde keineswegs geeignet sein,
die ästhetische Empfindung zu trösten. Auch selbst die Bärenmützen der Garde
würden nicht hinreichen, der beleidigten Empfindung Frieden zu geben, wenn dieser
Friede nicht schon ursprünglich in den Dresdner Herzen wohnte. Frieden ist der
GrUudcharakter der Dresdner Physiognomie, und darin haben wir auch zugleich
ihren wesentliche,: Unterschied gegen Berlin und Leipzig gefunden; gegen die Un¬
ruhe der philosophischen Rande's und die Geschäftigkeit der Büchertrödler.

Man verwechsele die Dresdner nicht mit dem Gedränge in den Bildersälen
des Nenmarkts, in den Ateliers und bei den Antiken; auf diese, von dem Eingebornen
scharf zu trennende Gesellschaft werden wir später geführt werden. Wer den spe¬
cifischen Dresdner kennen lernen will, gehe in's Waldschlößchcu, zu Fiudlater's,
in's Lincke'sche Bad, kurz irgend wohin, wo Harmlosigkeit und Unschuld ihren
Sitz ausgerichtet haben. Da das letztere Institut zu Eude des Sommers geschlossen
wird, so müssen wir eilen, was den Dresdner erfreut, hier zu suchen. Das Thea¬
ter auf dem Lincke'schen Bade ist Hoftheater, aber ungefähr mit dem Zuschnitt des
köuigsstädtischeu in Berlin, ausschließlich für Localstücke, Possen und Aehnliches
bestimmt. Herr Näder, der „berühmte" Verfasser des „Weltumsegler wider Willen"
und des „Artesischen Brunnens," ist der Heros dieser Bühne. Das Stück, wel¬
ches in dieser Saison fast ausschließlich die Bretter beschäftigt hat, ist „Eisele
und Beisele;" es wurde früher auf dem Sommertheater von Reisewitz von einer
Privattruppe gegeben, und das Linke'sche Bad hat es sich darauf angeeignet, weil
es den Kunstgeschmack der Dresdner befriedigt.

Man wirft der deutschen Literatur und Kunst vor, es fehlten ihr die charak¬
teristischen Typen, die nicht nur für eine Stadt, sondern für das gesammte Vaterland
leicht kenntlich, besonders der komischen Literatur eiuen angemessenen Stützpunkt geben
könnten. Es ist ein unbestreitbares Verdienst der fliegenden Blätter, daß sie die¬
sem fühlbaren Bedürfniß abgeholfen, und den CharaktermaSkeu eines Michel, Rande
und Hanswurst eine Reihe ähnlicher hinzugefügt haben. Das Drama, welches
ans jene CharaktermaSkeu gegründet ist, beschäftigt sich theils damit, sämmtliche Witze
der fliegenden Blätter ans gemalten zu lebenden Bildern zu erheben, und ich muß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/522>, abgerufen am 27.07.2024.