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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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ruf, die den geliebten Lehrer empfangen hatten. Er trat vor den Katheder, ver¬
beugte sich und winkte mit der Hand, als ob er die Massen beschwichtigen wolle;
umsonst, noch immer machte sich der Enthusiasmus in gewaltigen Ausbrüchen Lust.
Da richtete er sich aus und blickte vor sich hin, als ob er die Erregung ruhig
abwarten wollte.

Michelet's Aeußeres überraschte mich nicht wenig. Ich hatte mir ihn hoch,
lang, unbeholfen, von mittleren Jahren gedacht, Und sah nun ein kleines, hageres
Männchen mit langen, fast ganz weißen Haaren vor mir. Uebrigens war es eine
charakteristische Physiognomie mit schwarzen, stechenden Augen und einem voltaireia-
nischen Lächeln. Auf den Wangen fast eine fieberhafte Nöthe. Als der Sturm des
Empfangs vorbei war, setzte er sich nieder, ließ den Kops hängen, rollte ein kleines
Stuck Papier in den Fingern und begann auf dem Tische wie nach Ideen herum-
zusuchen. "Trefflicher Comödiant!" dachte ich bei mir selber, und in kurzen, kaum
vier bis fünf Worte langen Sätzen begann er wie folgt:

Meine Herren, ich setze heute die Vorlesungen über die französische Re¬
volution fort, die ich vorige Mittwoch abgebrochen. (Erwartungsvolle Pause.)
Als ich heute Morgen aufstand -- es war um 4 Uhr -- da war es sehr kalt,
und ich dachte an Sie. (Beifall.) Ich dachte: die Welt, die Menschheit leidet
zweifach: leiblich und geistig. (Beifall.) Es war sehr kalt und ich dachte an die
Armen. Ich sagte: die Ernte des Korn's wird kommen, aber wann kommt die
Ernte des Geistes?-- Wer wird sie heimbringen die Ernte des Geistes? -- Der¬
jenige, der es verstehen wird, in einem Buche zu lesen! In welchem Buche?
Es gibt zweierlei Bücher. -- Zur ersten Art Bücher gehört die orientalische Tra¬
dition: die eigentliche Bibel, dann die italienische Bibel: Dante, dann die eng¬
lische Bibel: Shakespeare, endlich die glorreiche französische Bibel: Rousseau und
Voltaire -- (Großer Applaus.) Michelet reibt sich das Kinn und blickt unwillig,
weil man ihn in seinem Satze unterbrochen hat. >-- Aber die zweite Art der Bibeln
ist noch wichtiger, noch lehrreicher (Spannung), und diese Bibel ist das menschliche
Herz! (Bravo, Bravo!) In diesen Bibeln sollen Sie lesen, meine Herren, und das
werden Sie, wenn Sie die beobachten, die da leiden und arbeiten. (Bravo, Bravo!)

Es gibt zwei Arten diese letztere Bibel zu lesen, zu Hanse und ans dem
Markte. Zu Hause liest man im eigenen Herzen, ans dem Markte in fremden.
Man hat gesagt: der Anfang der Weisheit sei die Furcht des Herrn. Nein! --
Der Anfang der Weisheit ist (er hält inne, große Spannung) -- daß man den
Schlüssel seiner Thüre nicht außen stecken läßt. (Bravo, Bravo!) Sich abzuschlie¬
ßen, abzusperren wissen ist der Anfang der Weisheit.

Oder --man muß auf den Markt gehe". Moliiwe, der größte Beobachter der
Herzen, wurde auf einem Markt gehöre"; Dante pflegte sich ans den Markt
niederzusetzen. -- Das ist's: auf den Markt muß man und dort beobachten, die
Herzen der Armen lesen -- die Bibel der Herzen!


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ruf, die den geliebten Lehrer empfangen hatten. Er trat vor den Katheder, ver¬
beugte sich und winkte mit der Hand, als ob er die Massen beschwichtigen wolle;
umsonst, noch immer machte sich der Enthusiasmus in gewaltigen Ausbrüchen Lust.
Da richtete er sich aus und blickte vor sich hin, als ob er die Erregung ruhig
abwarten wollte.

Michelet's Aeußeres überraschte mich nicht wenig. Ich hatte mir ihn hoch,
lang, unbeholfen, von mittleren Jahren gedacht, Und sah nun ein kleines, hageres
Männchen mit langen, fast ganz weißen Haaren vor mir. Uebrigens war es eine
charakteristische Physiognomie mit schwarzen, stechenden Augen und einem voltaireia-
nischen Lächeln. Auf den Wangen fast eine fieberhafte Nöthe. Als der Sturm des
Empfangs vorbei war, setzte er sich nieder, ließ den Kops hängen, rollte ein kleines
Stuck Papier in den Fingern und begann auf dem Tische wie nach Ideen herum-
zusuchen. „Trefflicher Comödiant!" dachte ich bei mir selber, und in kurzen, kaum
vier bis fünf Worte langen Sätzen begann er wie folgt:

Meine Herren, ich setze heute die Vorlesungen über die französische Re¬
volution fort, die ich vorige Mittwoch abgebrochen. (Erwartungsvolle Pause.)
Als ich heute Morgen aufstand — es war um 4 Uhr — da war es sehr kalt,
und ich dachte an Sie. (Beifall.) Ich dachte: die Welt, die Menschheit leidet
zweifach: leiblich und geistig. (Beifall.) Es war sehr kalt und ich dachte an die
Armen. Ich sagte: die Ernte des Korn's wird kommen, aber wann kommt die
Ernte des Geistes?— Wer wird sie heimbringen die Ernte des Geistes? — Der¬
jenige, der es verstehen wird, in einem Buche zu lesen! In welchem Buche?
Es gibt zweierlei Bücher. — Zur ersten Art Bücher gehört die orientalische Tra¬
dition: die eigentliche Bibel, dann die italienische Bibel: Dante, dann die eng¬
lische Bibel: Shakespeare, endlich die glorreiche französische Bibel: Rousseau und
Voltaire — (Großer Applaus.) Michelet reibt sich das Kinn und blickt unwillig,
weil man ihn in seinem Satze unterbrochen hat. >— Aber die zweite Art der Bibeln
ist noch wichtiger, noch lehrreicher (Spannung), und diese Bibel ist das menschliche
Herz! (Bravo, Bravo!) In diesen Bibeln sollen Sie lesen, meine Herren, und das
werden Sie, wenn Sie die beobachten, die da leiden und arbeiten. (Bravo, Bravo!)

Es gibt zwei Arten diese letztere Bibel zu lesen, zu Hanse und ans dem
Markte. Zu Hause liest man im eigenen Herzen, ans dem Markte in fremden.
Man hat gesagt: der Anfang der Weisheit sei die Furcht des Herrn. Nein! —
Der Anfang der Weisheit ist (er hält inne, große Spannung) — daß man den
Schlüssel seiner Thüre nicht außen stecken läßt. (Bravo, Bravo!) Sich abzuschlie¬
ßen, abzusperren wissen ist der Anfang der Weisheit.

Oder —man muß auf den Markt gehe». Moliiwe, der größte Beobachter der
Herzen, wurde auf einem Markt gehöre»; Dante pflegte sich ans den Markt
niederzusetzen. — Das ist's: auf den Markt muß man und dort beobachten, die
Herzen der Armen lesen -- die Bibel der Herzen!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/445>, abgerufen am 27.07.2024.