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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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offene, brutale Gewalt die noch schlimmere, wiewohl gesetzliche Einschüchte¬
rung seiner Herren zu bekämpfen. Der katholische Priester und der prote¬
stantische Landlord sind zugegen; der Eigenthümer sagt zu seinem Pächter:
"Stimme für meinen Candidaten, oder ich jage Dich aus Deiner Hütte;"
der Priester sagt: "Stimme für den meinigen, oder ich fluche Dir und
treibe Dich aus dem Himmel." Und der arme Wähler, zwischen Vertrei¬
bung und Excommunication gestellt, schwebend zwischen Himmel und Erde,
zwischen der Sorge für geistiges und leibliches Heil, kann sich seinem Schick¬
sal nicht einmal durch Flucht oder Neutralität entziehen. Solche Sitten
können durch Gesetze uicht verändert werden, so lange die Umstände fort¬
bestehen, die sie hervorgerufen haben. Also siud die irischen Wahlen, nach
wie vor der Reform, fruchtbar gewesen an Scenen des Aufruhrs, der Ge¬
waltthätigkeit, des Blutvergießens. "In einer Grafschaft," schreibt ein
Anhänger der Reform, "sahen wir Flintenschüsse aus den Wagen des Can¬
didaten abfeuern; wir sahen bewaffnete Banden in die Häuser eindringen
und den Wählern, die Pistole auf der Brust, ihre Stimme abnöthigen;
wir sahen die Wähler genöthigt, sich mit einer militärischen Escorte zu
umgeben; wir sahen auf der Mitte der Landstraße eine Grube graben, um
die Post umzuwerfen, auf welcher Anhänger der Gegenpartei ankommen
sollten."

Wenn solche Sitten überhaupt entschuldigt oder gerechtfertigt werden
könnten, so müßten sie es in Irland sein, wo dem unterworfenen Stamm
nur diese Hülfe gegen die Unterdrückung bleibt. Ju England dagegen hat
diese Einschüchterung von unten nach oben nach der Reformbill gänzlich auf¬
gehört. Die äußerliche Sittlichkeit hat dabei sehr gewonnen; große Skan¬
dale kommen nicht mehr vor; aber kommt dieser Gewinn auch der Unabhän¬
gigkeit der Wahlen zu gut? Wir glauben es nicht. Im Gegentheil hat
die Reformbill der Wahlcorrnption uur neue Thore geöffnet, und der ganze
Einfluß der illegaler Einschüchterung fällt in die Wagschaale der legalen
Einschüchterung und der Bestechung. Die Reformbill ist eine große, gerechte
und liberale Maßregel gewesen; dennoch muß man sich nicht einbilden, daß
sie die Macht der Aristokratie fühlbar berührt habe. Wie konnte man
glauben, daß die Whigs, die eben so viel große Grundbesitzer unter sich
hatten als ihre Gegner, mit eignen Händen in die englische Verfassung das
demokratische Element einführen werden. Es ist von großem Interesse zu be¬
obachten, wie die Urheber der Reformbill es machten, die Basis des Stimul¬
rechts auszudehnen, ohne das aristokratische Prinzip der Verfassung zu än¬
dern , und wie ihrerseits die Widerstandspartei sich der liberalen Waffe be-


offene, brutale Gewalt die noch schlimmere, wiewohl gesetzliche Einschüchte¬
rung seiner Herren zu bekämpfen. Der katholische Priester und der prote¬
stantische Landlord sind zugegen; der Eigenthümer sagt zu seinem Pächter:
„Stimme für meinen Candidaten, oder ich jage Dich aus Deiner Hütte;"
der Priester sagt: „Stimme für den meinigen, oder ich fluche Dir und
treibe Dich aus dem Himmel." Und der arme Wähler, zwischen Vertrei¬
bung und Excommunication gestellt, schwebend zwischen Himmel und Erde,
zwischen der Sorge für geistiges und leibliches Heil, kann sich seinem Schick¬
sal nicht einmal durch Flucht oder Neutralität entziehen. Solche Sitten
können durch Gesetze uicht verändert werden, so lange die Umstände fort¬
bestehen, die sie hervorgerufen haben. Also siud die irischen Wahlen, nach
wie vor der Reform, fruchtbar gewesen an Scenen des Aufruhrs, der Ge¬
waltthätigkeit, des Blutvergießens. „In einer Grafschaft," schreibt ein
Anhänger der Reform, „sahen wir Flintenschüsse aus den Wagen des Can¬
didaten abfeuern; wir sahen bewaffnete Banden in die Häuser eindringen
und den Wählern, die Pistole auf der Brust, ihre Stimme abnöthigen;
wir sahen die Wähler genöthigt, sich mit einer militärischen Escorte zu
umgeben; wir sahen auf der Mitte der Landstraße eine Grube graben, um
die Post umzuwerfen, auf welcher Anhänger der Gegenpartei ankommen
sollten."

Wenn solche Sitten überhaupt entschuldigt oder gerechtfertigt werden
könnten, so müßten sie es in Irland sein, wo dem unterworfenen Stamm
nur diese Hülfe gegen die Unterdrückung bleibt. Ju England dagegen hat
diese Einschüchterung von unten nach oben nach der Reformbill gänzlich auf¬
gehört. Die äußerliche Sittlichkeit hat dabei sehr gewonnen; große Skan¬
dale kommen nicht mehr vor; aber kommt dieser Gewinn auch der Unabhän¬
gigkeit der Wahlen zu gut? Wir glauben es nicht. Im Gegentheil hat
die Reformbill der Wahlcorrnption uur neue Thore geöffnet, und der ganze
Einfluß der illegaler Einschüchterung fällt in die Wagschaale der legalen
Einschüchterung und der Bestechung. Die Reformbill ist eine große, gerechte
und liberale Maßregel gewesen; dennoch muß man sich nicht einbilden, daß
sie die Macht der Aristokratie fühlbar berührt habe. Wie konnte man
glauben, daß die Whigs, die eben so viel große Grundbesitzer unter sich
hatten als ihre Gegner, mit eignen Händen in die englische Verfassung das
demokratische Element einführen werden. Es ist von großem Interesse zu be¬
obachten, wie die Urheber der Reformbill es machten, die Basis des Stimul¬
rechts auszudehnen, ohne das aristokratische Prinzip der Verfassung zu än¬
dern , und wie ihrerseits die Widerstandspartei sich der liberalen Waffe be-


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[0317] offene, brutale Gewalt die noch schlimmere, wiewohl gesetzliche Einschüchte¬ rung seiner Herren zu bekämpfen. Der katholische Priester und der prote¬ stantische Landlord sind zugegen; der Eigenthümer sagt zu seinem Pächter: „Stimme für meinen Candidaten, oder ich jage Dich aus Deiner Hütte;" der Priester sagt: „Stimme für den meinigen, oder ich fluche Dir und treibe Dich aus dem Himmel." Und der arme Wähler, zwischen Vertrei¬ bung und Excommunication gestellt, schwebend zwischen Himmel und Erde, zwischen der Sorge für geistiges und leibliches Heil, kann sich seinem Schick¬ sal nicht einmal durch Flucht oder Neutralität entziehen. Solche Sitten können durch Gesetze uicht verändert werden, so lange die Umstände fort¬ bestehen, die sie hervorgerufen haben. Also siud die irischen Wahlen, nach wie vor der Reform, fruchtbar gewesen an Scenen des Aufruhrs, der Ge¬ waltthätigkeit, des Blutvergießens. „In einer Grafschaft," schreibt ein Anhänger der Reform, „sahen wir Flintenschüsse aus den Wagen des Can¬ didaten abfeuern; wir sahen bewaffnete Banden in die Häuser eindringen und den Wählern, die Pistole auf der Brust, ihre Stimme abnöthigen; wir sahen die Wähler genöthigt, sich mit einer militärischen Escorte zu umgeben; wir sahen auf der Mitte der Landstraße eine Grube graben, um die Post umzuwerfen, auf welcher Anhänger der Gegenpartei ankommen sollten." Wenn solche Sitten überhaupt entschuldigt oder gerechtfertigt werden könnten, so müßten sie es in Irland sein, wo dem unterworfenen Stamm nur diese Hülfe gegen die Unterdrückung bleibt. Ju England dagegen hat diese Einschüchterung von unten nach oben nach der Reformbill gänzlich auf¬ gehört. Die äußerliche Sittlichkeit hat dabei sehr gewonnen; große Skan¬ dale kommen nicht mehr vor; aber kommt dieser Gewinn auch der Unabhän¬ gigkeit der Wahlen zu gut? Wir glauben es nicht. Im Gegentheil hat die Reformbill der Wahlcorrnption uur neue Thore geöffnet, und der ganze Einfluß der illegaler Einschüchterung fällt in die Wagschaale der legalen Einschüchterung und der Bestechung. Die Reformbill ist eine große, gerechte und liberale Maßregel gewesen; dennoch muß man sich nicht einbilden, daß sie die Macht der Aristokratie fühlbar berührt habe. Wie konnte man glauben, daß die Whigs, die eben so viel große Grundbesitzer unter sich hatten als ihre Gegner, mit eignen Händen in die englische Verfassung das demokratische Element einführen werden. Es ist von großem Interesse zu be¬ obachten, wie die Urheber der Reformbill es machten, die Basis des Stimul¬ rechts auszudehnen, ohne das aristokratische Prinzip der Verfassung zu än¬ dern , und wie ihrerseits die Widerstandspartei sich der liberalen Waffe be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/317>, abgerufen am 27.07.2024.