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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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aufgehoben werden; es ist unwürdig, denn es verleitet seine Anhänger zu
bewußter und unbewußter Selbsttäuschung, zur Heuchelei; es ist endlich
schädlich, deun es reibt die Kräfte der Nation in fruchtlosen und kleinlichen
Scharmützeln ans und macht einen ernsthaften Kampf unmöglich. Was ferner
die Sache selbst betrifft, so werden die Liberalen des Egoismus beschuldigt,
da sie nur für die Gebildeten, für den Mittelstand, oder wie jetzt der tech¬
nische Ausdruck ist, sür die Bourgeoisie politische Rechte in Anspruch neh¬
men, sür das Volk dagegen kein Herz haben sollen. Es ist von Interesse,
zu sehen, wie die radicalen Blätter mit den ultra-conservativen wetteifern,
z. B. den Zustand des heutigen Frankreichs als einen unwürdigen und un¬
seligen darzustellen, die Herrschaft der Mittelklassen als das abscheulichste
System der Tyrannei zu schildern und gegen die Advocaten der liberalen
Sache auf das Volk zu recurriren. Von den Verdächtigungen der liberale"
Partei appellirt die Krone an das Volk; und die Radicalen n-ir excoIlL"co
ermahnen es eben so, nicht auf die Versprechungen von Konstitution u. s. w.
zu hören, sondern nur an seinen knurrenden Magen zu denken.

Die Sozialisten -- ich spreche hier von dem gebildeteren Theil der¬
selben -- machen dein politischen Liberalismus den Vorwurf, daß er die
Thätigkeit von dem eigentlichen ix-i-vu" rerum, abwendet und um hohler
Theorien willen die materiellen Bedürfnisse vernachlässigt. Auch darin
stimmt das Westphälische Dampfboot mit dem Rheinischen Beobachter
ganz überein. Jede StaatSverändernug, sagen sie, kaun das Volk nur in
so fern angehen, als es dadurch materiell gefördert wird; was aber die
Entwickelung des Volks hemmt, liegt nicht im Staat, sondern in der Ge¬
sellschaft; in den kirchlichen Einrichtungen, den Verhältnissen des Eigenthums
und deö Handels, den Instituten der Ehe, der Erziehung n. s. w. Ob es
von einem König oder einer Versannnlnng regiert wird, daran könne dem
Volke wenig liegen, es komme nur darauf an, daß es nicht blos rechtlich,
sondern auch factisch die Mittel in Händen habe, in materieller nud geistiger
Beziehung glücklich zu sein.

Gegen beide Augriffe, glauben wir, kaun der Liberalismus sich leicht
vertheidigen.

Was die Radicalen betrifft, so muß vorausgeschickt werden, daß aller¬
dings ein prinzipieller Unterschied stattfindet. Sie meinen, die einzige Na-
dicalcur des Staats sei eine Revolution. Die Liberalen dagegen, d. h.
diejenigen unter ihnen, die praktisch für die gute Sache wirken, sind einer
Revolution eben so entschieden entgegen, als die Conservativen. Abgesehen
davon, daß man Gift nnr in verzweifelten Fällen als Medicament gebrauchen


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aufgehoben werden; es ist unwürdig, denn es verleitet seine Anhänger zu
bewußter und unbewußter Selbsttäuschung, zur Heuchelei; es ist endlich
schädlich, deun es reibt die Kräfte der Nation in fruchtlosen und kleinlichen
Scharmützeln ans und macht einen ernsthaften Kampf unmöglich. Was ferner
die Sache selbst betrifft, so werden die Liberalen des Egoismus beschuldigt,
da sie nur für die Gebildeten, für den Mittelstand, oder wie jetzt der tech¬
nische Ausdruck ist, sür die Bourgeoisie politische Rechte in Anspruch neh¬
men, sür das Volk dagegen kein Herz haben sollen. Es ist von Interesse,
zu sehen, wie die radicalen Blätter mit den ultra-conservativen wetteifern,
z. B. den Zustand des heutigen Frankreichs als einen unwürdigen und un¬
seligen darzustellen, die Herrschaft der Mittelklassen als das abscheulichste
System der Tyrannei zu schildern und gegen die Advocaten der liberalen
Sache auf das Volk zu recurriren. Von den Verdächtigungen der liberale»
Partei appellirt die Krone an das Volk; und die Radicalen n-ir excoIlL»co
ermahnen es eben so, nicht auf die Versprechungen von Konstitution u. s. w.
zu hören, sondern nur an seinen knurrenden Magen zu denken.

Die Sozialisten — ich spreche hier von dem gebildeteren Theil der¬
selben — machen dein politischen Liberalismus den Vorwurf, daß er die
Thätigkeit von dem eigentlichen ix-i-vu« rerum, abwendet und um hohler
Theorien willen die materiellen Bedürfnisse vernachlässigt. Auch darin
stimmt das Westphälische Dampfboot mit dem Rheinischen Beobachter
ganz überein. Jede StaatSverändernug, sagen sie, kaun das Volk nur in
so fern angehen, als es dadurch materiell gefördert wird; was aber die
Entwickelung des Volks hemmt, liegt nicht im Staat, sondern in der Ge¬
sellschaft; in den kirchlichen Einrichtungen, den Verhältnissen des Eigenthums
und deö Handels, den Instituten der Ehe, der Erziehung n. s. w. Ob es
von einem König oder einer Versannnlnng regiert wird, daran könne dem
Volke wenig liegen, es komme nur darauf an, daß es nicht blos rechtlich,
sondern auch factisch die Mittel in Händen habe, in materieller nud geistiger
Beziehung glücklich zu sein.

Gegen beide Augriffe, glauben wir, kaun der Liberalismus sich leicht
vertheidigen.

Was die Radicalen betrifft, so muß vorausgeschickt werden, daß aller¬
dings ein prinzipieller Unterschied stattfindet. Sie meinen, die einzige Na-
dicalcur des Staats sei eine Revolution. Die Liberalen dagegen, d. h.
diejenigen unter ihnen, die praktisch für die gute Sache wirken, sind einer
Revolution eben so entschieden entgegen, als die Conservativen. Abgesehen
davon, daß man Gift nnr in verzweifelten Fällen als Medicament gebrauchen


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[0283] aufgehoben werden; es ist unwürdig, denn es verleitet seine Anhänger zu bewußter und unbewußter Selbsttäuschung, zur Heuchelei; es ist endlich schädlich, deun es reibt die Kräfte der Nation in fruchtlosen und kleinlichen Scharmützeln ans und macht einen ernsthaften Kampf unmöglich. Was ferner die Sache selbst betrifft, so werden die Liberalen des Egoismus beschuldigt, da sie nur für die Gebildeten, für den Mittelstand, oder wie jetzt der tech¬ nische Ausdruck ist, sür die Bourgeoisie politische Rechte in Anspruch neh¬ men, sür das Volk dagegen kein Herz haben sollen. Es ist von Interesse, zu sehen, wie die radicalen Blätter mit den ultra-conservativen wetteifern, z. B. den Zustand des heutigen Frankreichs als einen unwürdigen und un¬ seligen darzustellen, die Herrschaft der Mittelklassen als das abscheulichste System der Tyrannei zu schildern und gegen die Advocaten der liberalen Sache auf das Volk zu recurriren. Von den Verdächtigungen der liberale» Partei appellirt die Krone an das Volk; und die Radicalen n-ir excoIlL»co ermahnen es eben so, nicht auf die Versprechungen von Konstitution u. s. w. zu hören, sondern nur an seinen knurrenden Magen zu denken. Die Sozialisten — ich spreche hier von dem gebildeteren Theil der¬ selben — machen dein politischen Liberalismus den Vorwurf, daß er die Thätigkeit von dem eigentlichen ix-i-vu« rerum, abwendet und um hohler Theorien willen die materiellen Bedürfnisse vernachlässigt. Auch darin stimmt das Westphälische Dampfboot mit dem Rheinischen Beobachter ganz überein. Jede StaatSverändernug, sagen sie, kaun das Volk nur in so fern angehen, als es dadurch materiell gefördert wird; was aber die Entwickelung des Volks hemmt, liegt nicht im Staat, sondern in der Ge¬ sellschaft; in den kirchlichen Einrichtungen, den Verhältnissen des Eigenthums und deö Handels, den Instituten der Ehe, der Erziehung n. s. w. Ob es von einem König oder einer Versannnlnng regiert wird, daran könne dem Volke wenig liegen, es komme nur darauf an, daß es nicht blos rechtlich, sondern auch factisch die Mittel in Händen habe, in materieller nud geistiger Beziehung glücklich zu sein. Gegen beide Augriffe, glauben wir, kaun der Liberalismus sich leicht vertheidigen. Was die Radicalen betrifft, so muß vorausgeschickt werden, daß aller¬ dings ein prinzipieller Unterschied stattfindet. Sie meinen, die einzige Na- dicalcur des Staats sei eine Revolution. Die Liberalen dagegen, d. h. diejenigen unter ihnen, die praktisch für die gute Sache wirken, sind einer Revolution eben so entschieden entgegen, als die Conservativen. Abgesehen davon, daß man Gift nnr in verzweifelten Fällen als Medicament gebrauchen GrcnMm. »I. 1Si7. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/283>, abgerufen am 01.09.2024.