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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Die Warnungen des Hungerjahres.



Rousseau fragt sich selbst irgendwo: "Aber wozu hat denn Gott die
Schmerzen geschaffen?" und er antwortet sich selbst: "Sie sind eine War¬
nung, die uns anzeigt, daß etwas verkehrt ist, daß wir vom Wege der
Natur abweichen, daß wir unsere Kräfte übertreiben, daß Rückkehr zur Na¬
tur und Ruhe uns nöthig sind." -- Mau kann dieselbe Frage in Bezug auf
die Mangeljahre stellen und wird ungefähr zu derselben Antwort gelangen.
Auch sie sind eine Warnung, die da bekundet, daß etwas verkehrt ist, daß
wir auf falschem Wege sind, daß Rückkehr, mehr Ordnung, eine bessere Ein¬
richtung nothwendig sind. Wer sieht nicht, daß das irländische Elend end¬
lich den Engländern die Augen über die Nothwendigkeit durchgreifender Hülfe
für Irland geöffnet hat? Und nicht nur für England ist das irländische.
Elend eine Warnung, sondern für alle Volker, die Augen zum Scheu und
Ohren zu Hören-haben. Uns aber insbesondere sagt sie, daß wir nie ver¬
gessen sollen, wie alle unserm Schutze anvertraute Volksstämme, die die Ge¬
schichte an unser Geschick gefesselt hat, unsere Brüder sind und nur durch
eine Bruderpolitik sür uus gewonnen werden können, nur in, ihrem eignen
Wohl auch die Pflicht finden werdeu, dem unseligen nicht nur nicht im Wege
zu stehen, sondern im Gegentheil mit für dasselbe einzutreten. Alle slavisch-
deutscheu Provinzen sind unser Irland; das Nothjahr und seine Folgen aber
rufen uus mit lauter Stimme zu: Hütet Euch, ihnen gegenüber Engländer
zu sein, seid ihnen Brüder und Ihr werdet Euch Brüder in ihnen erziehen.

Die Warnung des Nothjahres ist überall thätig, sie tritt vor uns in
"nem Augenblicke, wo sich kein Mensch mehr darüber täuschen darf und
täuscht, daß wir eiuer neuen Zeit entgegengehen. Sie steht an der Grenze
derselben, und es wird unsere Schuld sein, wenn wir sie nicht verstehen, und
diese Schuld wird bleischwer auf uns und unsere Nachkommen fallen, wenn
wir sie nicht von uns abweisen. Die Hülferufe des Hungers sind ein Be-'


Wrtnzhotin. U. I8"7. ,
Die Warnungen des Hungerjahres.



Rousseau fragt sich selbst irgendwo: „Aber wozu hat denn Gott die
Schmerzen geschaffen?" und er antwortet sich selbst: „Sie sind eine War¬
nung, die uns anzeigt, daß etwas verkehrt ist, daß wir vom Wege der
Natur abweichen, daß wir unsere Kräfte übertreiben, daß Rückkehr zur Na¬
tur und Ruhe uns nöthig sind." — Mau kann dieselbe Frage in Bezug auf
die Mangeljahre stellen und wird ungefähr zu derselben Antwort gelangen.
Auch sie sind eine Warnung, die da bekundet, daß etwas verkehrt ist, daß
wir auf falschem Wege sind, daß Rückkehr, mehr Ordnung, eine bessere Ein¬
richtung nothwendig sind. Wer sieht nicht, daß das irländische Elend end¬
lich den Engländern die Augen über die Nothwendigkeit durchgreifender Hülfe
für Irland geöffnet hat? Und nicht nur für England ist das irländische.
Elend eine Warnung, sondern für alle Volker, die Augen zum Scheu und
Ohren zu Hören-haben. Uns aber insbesondere sagt sie, daß wir nie ver¬
gessen sollen, wie alle unserm Schutze anvertraute Volksstämme, die die Ge¬
schichte an unser Geschick gefesselt hat, unsere Brüder sind und nur durch
eine Bruderpolitik sür uus gewonnen werden können, nur in, ihrem eignen
Wohl auch die Pflicht finden werdeu, dem unseligen nicht nur nicht im Wege
zu stehen, sondern im Gegentheil mit für dasselbe einzutreten. Alle slavisch-
deutscheu Provinzen sind unser Irland; das Nothjahr und seine Folgen aber
rufen uus mit lauter Stimme zu: Hütet Euch, ihnen gegenüber Engländer
zu sein, seid ihnen Brüder und Ihr werdet Euch Brüder in ihnen erziehen.

Die Warnung des Nothjahres ist überall thätig, sie tritt vor uns in
«nem Augenblicke, wo sich kein Mensch mehr darüber täuschen darf und
täuscht, daß wir eiuer neuen Zeit entgegengehen. Sie steht an der Grenze
derselben, und es wird unsere Schuld sein, wenn wir sie nicht verstehen, und
diese Schuld wird bleischwer auf uns und unsere Nachkommen fallen, wenn
wir sie nicht von uns abweisen. Die Hülferufe des Hungers sind ein Be-'


Wrtnzhotin. U. I8«7. ,
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[0009] Die Warnungen des Hungerjahres. Rousseau fragt sich selbst irgendwo: „Aber wozu hat denn Gott die Schmerzen geschaffen?" und er antwortet sich selbst: „Sie sind eine War¬ nung, die uns anzeigt, daß etwas verkehrt ist, daß wir vom Wege der Natur abweichen, daß wir unsere Kräfte übertreiben, daß Rückkehr zur Na¬ tur und Ruhe uns nöthig sind." — Mau kann dieselbe Frage in Bezug auf die Mangeljahre stellen und wird ungefähr zu derselben Antwort gelangen. Auch sie sind eine Warnung, die da bekundet, daß etwas verkehrt ist, daß wir auf falschem Wege sind, daß Rückkehr, mehr Ordnung, eine bessere Ein¬ richtung nothwendig sind. Wer sieht nicht, daß das irländische Elend end¬ lich den Engländern die Augen über die Nothwendigkeit durchgreifender Hülfe für Irland geöffnet hat? Und nicht nur für England ist das irländische. Elend eine Warnung, sondern für alle Volker, die Augen zum Scheu und Ohren zu Hören-haben. Uns aber insbesondere sagt sie, daß wir nie ver¬ gessen sollen, wie alle unserm Schutze anvertraute Volksstämme, die die Ge¬ schichte an unser Geschick gefesselt hat, unsere Brüder sind und nur durch eine Bruderpolitik sür uus gewonnen werden können, nur in, ihrem eignen Wohl auch die Pflicht finden werdeu, dem unseligen nicht nur nicht im Wege zu stehen, sondern im Gegentheil mit für dasselbe einzutreten. Alle slavisch- deutscheu Provinzen sind unser Irland; das Nothjahr und seine Folgen aber rufen uus mit lauter Stimme zu: Hütet Euch, ihnen gegenüber Engländer zu sein, seid ihnen Brüder und Ihr werdet Euch Brüder in ihnen erziehen. Die Warnung des Nothjahres ist überall thätig, sie tritt vor uns in «nem Augenblicke, wo sich kein Mensch mehr darüber täuschen darf und täuscht, daß wir eiuer neuen Zeit entgegengehen. Sie steht an der Grenze derselben, und es wird unsere Schuld sein, wenn wir sie nicht verstehen, und diese Schuld wird bleischwer auf uns und unsere Nachkommen fallen, wenn wir sie nicht von uns abweisen. Die Hülferufe des Hungers sind ein Be-' Wrtnzhotin. U. I8«7. ,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/9>, abgerufen am 29.06.2024.