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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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weis, daß die Gesellschaft krank ist; und die Gesellschaft mag in sich gehen
und sich selbst an den Puls fühlen, damit sie die Krankheit erkenne. Und
es ist nicht einmal schwer, die Diagnose zu stellen und in etwa die Heilmit¬
tel anzudeuten. Es ist klar, daß ein großer Theil der Gesellschaft und grade
der schwächste, der ärmste, rein dem Zufalle überlassen ist, und dieser Zu¬
fall jahraus jahrein das Huugerschwert über seinem Haupte hält, und dann
ein wenig Regen oder Dürre genügt, um es auf Millionen herabfallen zu
machen. Das ist ein ewiger Krankheitsstoff, und diesem Zufalle muß die
Gesellschaft durch Ordnung und Vorsicht vorbeugen. Warum gibt
es ein Ministerium des Handels und der Industrie für alle höhere
Schichten des Gesellschaftslebens und keines für die untern, nämlich für die
Arbeit? Warum gibt es ein Ministerium des Ackerbaues, das über die In¬
teressen der Cultur wacht und nicht an die der Ackerbauer selbst, der Masse,
der Proletarier, der kleinen Höfler und Arbeiter denkt? Warum sorgen die
Regierungen halbwegs für den Ackerbau als Gewerbe, als Kunst, ohne an
ihr als der nothwendige Nährvater der ganzen Gesellschaft zu denken? Sollte
nicht die erste Pflicht jedes Ackerbanministeriums grade die sein, zu wissen, wie
viele Früchte das Land zeugen muß, um alle Söhne des Vaterlandes zu nähren?
Erst dann würde es nicht gezwungen sein, bei eintretender Mißerndte Alles
dem Zufalle, der Privatspecnlation, der Sucht ans dem Hunger Gold zu
schlagen, zu überlassen, sondern könnte in der Zeit ja sorge". Es gibt Con-
duiteulisteu über jeden Schritt, den die Beamten thun, Spione, um jeden
Schritt der Nichtbeamten zu bewachen; aber keine, die da bekunden, wie viel
Kartoffeln, wie viel Korn nud Gerste das Laud braucht' und zeugt. Die
Regierungen verschwenden ihre beste Zeit mit Sachen, die gar keine Bedeu¬
tung haben, und haben dann keine Zeit mehr für die Angelegenheiten, von
denen das Heil oder Unheil ihrer Völker, von Millionen von Menschen ab¬
hängt. Alles Regierungswesen ist in gewisser Beziehung nur ein äußeres,
die eigentlich inneren Angelegenheiten des Landes aber sind überall ver¬
nachlässigt. Es soll dies kein Vorwurf fein, sondern wir sprechen nur eine
Thatsache aus. Und diese Thatsache selbst entschuldigt und erklärt sich ganz
natürlich, wenn man bedenkt, daß seit Jahrhunderten, seit dem Glücke, das
die englische Nation durch ihr Wesen gemacht hat, die Völker und Staats¬
männer sich gewohnt haben, die Ursache dieses Glückes in der äußern Form
zu sehen. Montesquieu, Rousseau selbst in vieler Beziehung, die ganze
französische Revolution, die Restauraten, alle Führer der europäischen Staa¬
ten theilen diesen Irrthum Mehr oder weniger. Das Hungerjahr aber rief


weis, daß die Gesellschaft krank ist; und die Gesellschaft mag in sich gehen
und sich selbst an den Puls fühlen, damit sie die Krankheit erkenne. Und
es ist nicht einmal schwer, die Diagnose zu stellen und in etwa die Heilmit¬
tel anzudeuten. Es ist klar, daß ein großer Theil der Gesellschaft und grade
der schwächste, der ärmste, rein dem Zufalle überlassen ist, und dieser Zu¬
fall jahraus jahrein das Huugerschwert über seinem Haupte hält, und dann
ein wenig Regen oder Dürre genügt, um es auf Millionen herabfallen zu
machen. Das ist ein ewiger Krankheitsstoff, und diesem Zufalle muß die
Gesellschaft durch Ordnung und Vorsicht vorbeugen. Warum gibt
es ein Ministerium des Handels und der Industrie für alle höhere
Schichten des Gesellschaftslebens und keines für die untern, nämlich für die
Arbeit? Warum gibt es ein Ministerium des Ackerbaues, das über die In¬
teressen der Cultur wacht und nicht an die der Ackerbauer selbst, der Masse,
der Proletarier, der kleinen Höfler und Arbeiter denkt? Warum sorgen die
Regierungen halbwegs für den Ackerbau als Gewerbe, als Kunst, ohne an
ihr als der nothwendige Nährvater der ganzen Gesellschaft zu denken? Sollte
nicht die erste Pflicht jedes Ackerbanministeriums grade die sein, zu wissen, wie
viele Früchte das Land zeugen muß, um alle Söhne des Vaterlandes zu nähren?
Erst dann würde es nicht gezwungen sein, bei eintretender Mißerndte Alles
dem Zufalle, der Privatspecnlation, der Sucht ans dem Hunger Gold zu
schlagen, zu überlassen, sondern könnte in der Zeit ja sorge». Es gibt Con-
duiteulisteu über jeden Schritt, den die Beamten thun, Spione, um jeden
Schritt der Nichtbeamten zu bewachen; aber keine, die da bekunden, wie viel
Kartoffeln, wie viel Korn nud Gerste das Laud braucht' und zeugt. Die
Regierungen verschwenden ihre beste Zeit mit Sachen, die gar keine Bedeu¬
tung haben, und haben dann keine Zeit mehr für die Angelegenheiten, von
denen das Heil oder Unheil ihrer Völker, von Millionen von Menschen ab¬
hängt. Alles Regierungswesen ist in gewisser Beziehung nur ein äußeres,
die eigentlich inneren Angelegenheiten des Landes aber sind überall ver¬
nachlässigt. Es soll dies kein Vorwurf fein, sondern wir sprechen nur eine
Thatsache aus. Und diese Thatsache selbst entschuldigt und erklärt sich ganz
natürlich, wenn man bedenkt, daß seit Jahrhunderten, seit dem Glücke, das
die englische Nation durch ihr Wesen gemacht hat, die Völker und Staats¬
männer sich gewohnt haben, die Ursache dieses Glückes in der äußern Form
zu sehen. Montesquieu, Rousseau selbst in vieler Beziehung, die ganze
französische Revolution, die Restauraten, alle Führer der europäischen Staa¬
ten theilen diesen Irrthum Mehr oder weniger. Das Hungerjahr aber rief


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/10>, abgerufen am 26.06.2024.