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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Romantischen, vom Romantischen zu den Eisenbahnen u. s. w. überspringt,
der hat anch einen Begriff von seinem historischen Styl.

Als Wissenschaft hat die Geschichte in diesem Buche keinen Fortschritt
gemacht. Es soll ein anmuthiges Lesebuch sein, die ernsten Ereignisse jener
stürmischen Jahre dem Feuilleton-Publikum zugänglich zu machen. Weder
in Beziehung auf das Factische, noch auf die dialektische Entwickelung der
revolutionären Idee ist irgend eine bedeutende Forschung angestellt; wer
den Thiers kennt, wird nichts Neues erfahren. Schon bei Thiers fällt es
auf, wie ein wenigstens angehender Staatsmann sich so wenig um das
eigentlich Politische bekümmert, die Administration, die Finanzen u. s. w.
Lamartine geht uoch weiter; er läßt ruhig alles Uebrige bei Seite und er¬
zählt die merkwürdigen, romantischen Begebenheiten,, die zu jeuer Zeit in
Paris vorfielen, indem er überall artige Schilderungen der einzelnen Per¬
sönlichkeiten einsticht, ohne daß auch diese besonders tief eingreifen. Alle
Reden, die irgend einen rhetorischen Anlauf nehmen, werden gewissenhaft
aus dem Moniteur abgedruckt, die Emeuten poetisch geschildert, wie wir
das schon an Thiers gewohnt sind.

Eigentlich ist schon das Thema des Poeten mehr sentimental als kri¬
tisch; denn die Bedeutung der Gironde als Partei läßt sich nur im Zu¬
sammenhang der ganzen Revolution ermessen. Sie ist ein Complex sehr
verschiedenartiger Elemente, die durch besondere Umstände zu einer Partei,
oder sagen wir lieber zu einer Coterie, vereinigt wurden, deren Einzclschick-
sale wohl ein Interesse erregen, aber nicht eigentlich ein historisches.

Lamartine hat auch gefühlt, daß mau des Zusammenhangs wegen die
frühern Ereignisse wenigstens in einer Einleitung berühren müsse. Er
fängt an wie in einem Romane: "Mirabeau war eben gestorben;"
dann folgt eine Charakteristik Mirabeau's, diese erfordert wieder eine Er¬
zählung seiner Schicksale, diese führen zu andern Geschichten n. s. w., bis
endlich der Faden der Begebenheiten wieder ans die Ereignisse leitet, mit
denen der Erzähler eigentlich hatte anfangen wollen. Ueberall sind Reflexio¬
nen eingestreut, ungefähr dieser Art: "Wenn jede der Parteien oder der
Personen, die in diese Ereignisse verwickelt wurden, anstatt der Leidenschaft
die Tugend zur Richtschnur ihrer Handlungsweise erkoren hätte, so wäre
all' das Mißgeschick der Revolution vermieden worden. Wäre der König
fest und verständig gewesen, der Clerus uneigennützig, der Adel rechtschaffen,
das Volk gemäßigt, Mirabeau unbestechlich, Lafayette entschieden, Nobes-
Pierre menschlich -- so hätte die Revolution ihren Lauf majestätisch und
ruhig über Frankreich und Europa genommen; sie hätte sich wie eine Phi--


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Romantischen, vom Romantischen zu den Eisenbahnen u. s. w. überspringt,
der hat anch einen Begriff von seinem historischen Styl.

Als Wissenschaft hat die Geschichte in diesem Buche keinen Fortschritt
gemacht. Es soll ein anmuthiges Lesebuch sein, die ernsten Ereignisse jener
stürmischen Jahre dem Feuilleton-Publikum zugänglich zu machen. Weder
in Beziehung auf das Factische, noch auf die dialektische Entwickelung der
revolutionären Idee ist irgend eine bedeutende Forschung angestellt; wer
den Thiers kennt, wird nichts Neues erfahren. Schon bei Thiers fällt es
auf, wie ein wenigstens angehender Staatsmann sich so wenig um das
eigentlich Politische bekümmert, die Administration, die Finanzen u. s. w.
Lamartine geht uoch weiter; er läßt ruhig alles Uebrige bei Seite und er¬
zählt die merkwürdigen, romantischen Begebenheiten,, die zu jeuer Zeit in
Paris vorfielen, indem er überall artige Schilderungen der einzelnen Per¬
sönlichkeiten einsticht, ohne daß auch diese besonders tief eingreifen. Alle
Reden, die irgend einen rhetorischen Anlauf nehmen, werden gewissenhaft
aus dem Moniteur abgedruckt, die Emeuten poetisch geschildert, wie wir
das schon an Thiers gewohnt sind.

Eigentlich ist schon das Thema des Poeten mehr sentimental als kri¬
tisch; denn die Bedeutung der Gironde als Partei läßt sich nur im Zu¬
sammenhang der ganzen Revolution ermessen. Sie ist ein Complex sehr
verschiedenartiger Elemente, die durch besondere Umstände zu einer Partei,
oder sagen wir lieber zu einer Coterie, vereinigt wurden, deren Einzclschick-
sale wohl ein Interesse erregen, aber nicht eigentlich ein historisches.

Lamartine hat auch gefühlt, daß mau des Zusammenhangs wegen die
frühern Ereignisse wenigstens in einer Einleitung berühren müsse. Er
fängt an wie in einem Romane: „Mirabeau war eben gestorben;"
dann folgt eine Charakteristik Mirabeau's, diese erfordert wieder eine Er¬
zählung seiner Schicksale, diese führen zu andern Geschichten n. s. w., bis
endlich der Faden der Begebenheiten wieder ans die Ereignisse leitet, mit
denen der Erzähler eigentlich hatte anfangen wollen. Ueberall sind Reflexio¬
nen eingestreut, ungefähr dieser Art: „Wenn jede der Parteien oder der
Personen, die in diese Ereignisse verwickelt wurden, anstatt der Leidenschaft
die Tugend zur Richtschnur ihrer Handlungsweise erkoren hätte, so wäre
all' das Mißgeschick der Revolution vermieden worden. Wäre der König
fest und verständig gewesen, der Clerus uneigennützig, der Adel rechtschaffen,
das Volk gemäßigt, Mirabeau unbestechlich, Lafayette entschieden, Nobes-
Pierre menschlich — so hätte die Revolution ihren Lauf majestätisch und
ruhig über Frankreich und Europa genommen; sie hätte sich wie eine Phi--


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[0575] Romantischen, vom Romantischen zu den Eisenbahnen u. s. w. überspringt, der hat anch einen Begriff von seinem historischen Styl. Als Wissenschaft hat die Geschichte in diesem Buche keinen Fortschritt gemacht. Es soll ein anmuthiges Lesebuch sein, die ernsten Ereignisse jener stürmischen Jahre dem Feuilleton-Publikum zugänglich zu machen. Weder in Beziehung auf das Factische, noch auf die dialektische Entwickelung der revolutionären Idee ist irgend eine bedeutende Forschung angestellt; wer den Thiers kennt, wird nichts Neues erfahren. Schon bei Thiers fällt es auf, wie ein wenigstens angehender Staatsmann sich so wenig um das eigentlich Politische bekümmert, die Administration, die Finanzen u. s. w. Lamartine geht uoch weiter; er läßt ruhig alles Uebrige bei Seite und er¬ zählt die merkwürdigen, romantischen Begebenheiten,, die zu jeuer Zeit in Paris vorfielen, indem er überall artige Schilderungen der einzelnen Per¬ sönlichkeiten einsticht, ohne daß auch diese besonders tief eingreifen. Alle Reden, die irgend einen rhetorischen Anlauf nehmen, werden gewissenhaft aus dem Moniteur abgedruckt, die Emeuten poetisch geschildert, wie wir das schon an Thiers gewohnt sind. Eigentlich ist schon das Thema des Poeten mehr sentimental als kri¬ tisch; denn die Bedeutung der Gironde als Partei läßt sich nur im Zu¬ sammenhang der ganzen Revolution ermessen. Sie ist ein Complex sehr verschiedenartiger Elemente, die durch besondere Umstände zu einer Partei, oder sagen wir lieber zu einer Coterie, vereinigt wurden, deren Einzclschick- sale wohl ein Interesse erregen, aber nicht eigentlich ein historisches. Lamartine hat auch gefühlt, daß mau des Zusammenhangs wegen die frühern Ereignisse wenigstens in einer Einleitung berühren müsse. Er fängt an wie in einem Romane: „Mirabeau war eben gestorben;" dann folgt eine Charakteristik Mirabeau's, diese erfordert wieder eine Er¬ zählung seiner Schicksale, diese führen zu andern Geschichten n. s. w., bis endlich der Faden der Begebenheiten wieder ans die Ereignisse leitet, mit denen der Erzähler eigentlich hatte anfangen wollen. Ueberall sind Reflexio¬ nen eingestreut, ungefähr dieser Art: „Wenn jede der Parteien oder der Personen, die in diese Ereignisse verwickelt wurden, anstatt der Leidenschaft die Tugend zur Richtschnur ihrer Handlungsweise erkoren hätte, so wäre all' das Mißgeschick der Revolution vermieden worden. Wäre der König fest und verständig gewesen, der Clerus uneigennützig, der Adel rechtschaffen, das Volk gemäßigt, Mirabeau unbestechlich, Lafayette entschieden, Nobes- Pierre menschlich — so hätte die Revolution ihren Lauf majestätisch und ruhig über Frankreich und Europa genommen; sie hätte sich wie eine Phi-- 74*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/575>, abgerufen am 01.07.2024.